Geste der Versöhnung, Ruf an die Welt: Mattarellas Appell zum Volkstrauertag zerbricht die Illusion der Isolation
Der Volkstrauertag in Deutschland ist traditionell ein Tag der stillen Einkehr, des nationalen Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Doch die diesjährige Zeremonie, die sich im Herzen des deutschen Parlamentarismus abspielte, wurde zu einem Ereignis von historischer und höchst politischer Dimension. Als Hauptredner trat mit Sergio Mattarella, dem Präsidenten der Italienischen Republik, ein Vertreter eines einstigen Kriegsgegners ans Rednerpult. Seine Anwesenheit allein war eine „Geste der Versöhnung“ von beispielloser Tiefe, doch seine Worte sprengten den Rahmen der Trauer und wurden zu einem dringenden Appell an die gesamte europäische Weltordnung.
Mattarellas Rede war keine historische Geschichtsstunde, sondern eine messerscharfe Analyse der Gegenwart, gehalten vor dem Hintergrund der tiefsten menschlichen Tragödien. Seine zentrale Forderung, laut und unmissverständlich in den Bundestag gerufen, ist die Notwendigkeit von mehr Multilateralismus. Diese Forderung ist ein direkter Gegenentwurf zu den nationalistischen Tendenzen und isolationistischen Reflexen, die in Europa und der Welt zunehmend an Boden gewinnen. Mattarella zerbrach damit die Illusion, Deutschland könne sich in einer immer unsichereren Welt in die nationale Isolation zurückziehen.
Das Erbe des Schmerzes als Verpflichtung
Der italienische Präsident verstand es meisterhaft, die Trauer der Vergangenheit als unumstößliche Verpflichtung für die Zukunft zu nutzen. In seiner Rede würdigte er nicht nur die Toten der beiden Weltkriege und der Gewaltherrschaft, sondern betonte die gemeinsame Verantwortung, die aus diesem „Erbe des Schmerzes“ erwachsen ist. „Wir gedenken heute in tiefer Stille der unzähligen Leben, die ausgelöscht wurden“, begann Mattarella, und seine Stimme, von Würde und Ernsthaftigkeit getragen, füllte den Plenarsaal. „Doch diese Stille darf nicht zur politischen Taubheit führen.“
Er zeichnete das Bild einer gemeinsamen europäischen Geschichte, die von Brüchen und Verwerfungen gekennzeichnet war, deren Überwindung jedoch zur Grundlage der heutigen Freiheit wurde. Der Umstand, dass Deutschland und Italien, einst Partner in einem verbrecherischen Pakt und dann erbitterte Feinde, heute als Pfeiler der Europäischen Union zusammenstehen, sei kein Zufall, sondern das Ergebnis eines bewussten Willens zur Versöhnung und Kooperation.
Die historische Dimension diente dabei als unerbittlicher Mahnfinger. Mattarella erinnerte daran, dass die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ihren Ursprung in nationaler Arroganz, gegenseitiger Verachtung und dem Abkapseln von Völkern hatten. „Wer heute die Grenzen wieder hochzieht, wer das Miteinander gegen das Gegeneinander tauscht, der vergisst die Lektionen, die in den Gräbern Europas liegen“, so die eindringliche Warnung des Präsidenten.
Der Zwang zur globalen Zusammenarbeit
Der Fokus seiner Rede richtete sich schnell auf die aktuellen globalen Herausforderungen. Mattarella stellte klar, dass die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts – von der Klimakrise über Pandemien bis hin zu den neuen geopolitischen Spannungen – nicht mit nationalstaatlichen Alleingängen zu bewältigen sind. Die Forderung nach Multilateralismus ist daher nicht als philosophische Präferenz zu verstehen, sondern als existenzielle Notwendigkeit.
Mattarella nahm dabei indirekt, aber scharf, die Tendenzen des Isolationismus und des erstarkenden Populismus ins Visier. Die einfache Lösung, die von Nationalisten versprochen werde – die Rückkehr zum vermeintlich unversehrten Nationalstaat – sei eine gefährliche und tödliche Illusion. „Es gibt kein Zurück in eine heile nationale Welt, die es nie gab“, betonte er. „Die Komplexität der modernen Welt verlangt uns eine globale Koordination ab, die über nationale Eitelkeiten erhaben ist.“
Besonders eindrücklich wurde seine Rede, als er die derzeitigen Kriege und Konflikte ansprach, allen voran den andauernden Krieg in der Ukraine und die Instabilität im Nahen Osten. Er forderte die europäischen Staaten auf, ihre Rolle als „Garanten der Stabilität“ in der Welt wieder aktiv wahrzunehmen. Dies könne nur gelingen, wenn Europa mit einer Stimme spreche und sich nicht von nationalen Partikularinteressen lähmen lasse.
Für Deutschland, das oft für seine zurückhaltende Rolle in der Außenpolitik kritisiert wird, war dies ein klarer Wink: Die Geschichte habe Deutschland eine Führungsrolle in der Bewahrung der europäischen Einigung aufgetragen. Führung bedeute in diesem Kontext jedoch nicht Dominanz, sondern die engagierte Arbeit an internationalen Bündnissen und die Stärkung von Institutionen wie der UNO, der NATO und der EU.
Die Zerbrechlichkeit des Friedens
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Ein emotionaler Höhepunkt der Rede war Mattarellas Appell an die junge Generation und die Zerbrechlichkeit des Friedens. Er mahnte, der Frieden sei keine Selbstverständlichkeit, kein Dauerzustand, sondern ein „tägliches Projekt“, das stetig verteidigt und neu verhandelt werden müsse. Die Opfer der Kriege hätten das Fundament für diesen Frieden gelegt, doch die Verantwortung liege nun bei den Lebenden, es nicht durch Gleichgültigkeit oder politischen Zynismus zu verspielen.
Der italienische Präsident bezog seine Forderung nach Multilateralismus explizit auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Angesichts der Unsicherheiten an den europäischen Außengrenzen sei es unerlässlich, die nationalen Armeen im Sinne einer gemeinsamen europäischen Souveränität zusammenzuführen. Diese Haltung ist besonders relevant vor dem Hintergrund der europäischen Debatte über strategische Autonomie und die Abhängigkeit von globalen Großmächten.
Die Rede Mattarellas wirkte damit wie eine „Brandrede für die europäische Seele“, die Deutschland und seinen Partnern ins Gewissen redet. Die symbolische Kraft seiner Anwesenheit am Volkstrauertag, einem Tag, der tief in der deutschen Erinnerungskultur verankert ist, verlieh seinen Worten dabei eine Wucht, die weit über das tagespolitische Geschäft hinausgeht.
Das Dilemma der Berliner Politik
Die Reaktionen in Berlin waren erwartungsgemäß von tiefem Respekt und Zustimmung geprägt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte die Worte Mattarellas als „historisch und zukunftsweisend“. Doch hinter den diplomatischen Ehrerbietungen verbirgt sich ein Dilemma für die deutsche Politik.
Mattarellas Forderung nach kompromisslosem Multilateralismus steht im Widerspruch zu den wachsenden Rufen nach nationaler Eigenständigkeit in Energiefragen, Verteidigung und Migrationspolitik, die auch innerhalb der Regierungskoalition zu hören sind. Die Rede des italienischen Präsidenten zwingt Berlin, die eigenen Prioritäten zu überprüfen: Wird man dem Appell des Multilateralismus folgen und die Souveränitätsrechte stärker an europäische Strukturen abgeben, oder wird man dem nationalen Druck nachgeben?
Mattarellas Appell ist somit ein Lackmustest für die deutsche Außenpolitik in den 2020er Jahren. Er hat die historische Dimension des Volkstrauertags genutzt, um eine politische Botschaft von existenzieller Dringlichkeit zu senden: Das Gedenken an die Toten ist sinnlos, wenn es nicht zur aktiven Gestaltung einer friedlichen und kooperativen Zukunft führt. Der Ruf nach mehr Multilateralismus ist der Ruf nach mehr Mut, die nationalen Interessen im Sinne des gemeinsamen europäischen Schicksals zurückzustellen.
Der Tag der Trauer wurde so zu einem Tag der Weichenstellung. Die Illusion der Isolation ist zerbrochen. Die deutsche Politik steht nun in der Pflicht, Mattarellas Versöhnungsgeste durch konkretes, multilaterales Handeln zu erwidern. Das Vermächtnis des Volkstrauertags 2025 wird nicht die Stille des Gedenkens sein, sondern der laute, globale Ruf eines italienischen Präsidenten nach einer gemeinsamen Zukunft.