Der letzte Tabubruch: Wie der Tod der Kessler-Zwillinge Deutschland spaltet – Zwischen Gottvertrauen, Ärzteeid und dem Recht auf das eigene Ende

Es ist ein Thema, das in den dunkelsten Ecken unserer gesellschaftlichen Konversation lauert, oft verdrängt, oft geflüstert, aber selten so laut diskutiert wie in diesen Tagen. Der selbstbestimmte, gemeinsame Tod der Kessler-Zwillinge Alice und Ellen hat eine Tür aufgestoßen, die viele lieber geschlossen halten würden. Sie sind gegangen, wie sie gelebt haben: selbstbestimmt, synchron, unzertrennlich. Doch ihr Abgang ist mehr als nur eine Promi-Meldung. Er ist ein Katalysator für eine Debatte, die tief in das moralische und ethische Mark unserer Gesellschaft schneidet.

In der aktuellen Ausgabe der “Aktuellen Stunde” des WDR prallen Welten aufeinander. Da ist das Ehepaar Schneider – er, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, sie, eine Frau, die dem Krebs ins Auge blickte. Und da ist Professor Uwe Janssens, ein Chefarzt, der täglich an der Frontlinie zwischen Leben und Tod steht. Ihre Aussagen sind ehrlich, schmerzhaft und zutiefst menschlich.

Das Ehepaar Schneider: Liebe, Glaube und der “Scheißjob” Gottes

Nikolaus und Anne Schneider sind kein gewöhnliches Paar. Wenn sie über den Tod sprechen, dann nicht theoretisch. 2014 trat Nikolaus Schneider von seinen hohen Kirchenämtern zurück, als bei seiner Frau Brustkrebs diagnostiziert wurde. Auch er selbst kämpfte gegen den Krebs. Sie kennen die Angst, die Schmerzen, die Ungewissheit. Und doch könnten ihre Ansichten über das “richtige” Sterben kaum unterschiedlicher sein.

Anne Schneider findet klare, fast rebellische Worte, die man von einer Pfarrersfrau vielleicht nicht erwarten würde. Angesprochen auf die Rolle Gottes beim Todeszeitpunkt, sagt sie unverblümt: “Da habe ich auch schon öfter diskutiert, dass ich denke, dann macht Gott einen Scheißjob, wenn ich so sehe, die Todeszeitpunkte von Menschen.” Ein Satz, der sitzt. Für sie ist das Sterben keine göttliche Lotterie, sondern eine “menschliche Verantwortung”. Sie würde sich das tödliche Medikament zwar nicht selbst besorgen wollen (“Du sagst ja immer, du würdest mir nicht das Barbiturat besorgen”), aber sie fordert das Recht, diese Entscheidung vorbereitet und geklärt zu wissen.

Ihr Mann hingegen, tief verwurzelt in seinem Gottvertrauen, wählt den konservativeren Weg. “Mein Impuls ist, ich kann mich dem anvertrauen”, sagt er leise aber bestimmt. Er möchte sich fallen lassen, in die Hände Gottes und in die Hände von Menschen, die ihn begleiten, bis er nicht mehr über sich selbst bestimmen kann. Für ihn ist das Aushalten des Endes ein Ausdruck seines Glaubens. Doch auch er sieht die Gefahr: Wenn der assistierte Suizid zur “normalen” Option wird, was passiert dann mit der Palliativmedizin? Wird der Tod zur Dienstleistung, das Sterben zum bürokratischen Akt?

Der Arzt, der nicht töten will, aber begleiten muss

Auf der anderen Seite steht die medizinische Realität. Professor Uwe Janssens, Chefarzt für Innere Medizin und Kardiologie, sieht täglich, was wir gerne ausblenden: 43 Prozent aller Menschen in Deutschland sterben im Krankenhaus. 43 Prozent! Oft in sterilen Räumen, angeschlossen an Maschinen, weit weg von der häuslichen Geborgenheit, die sich die meisten wünschen.

“Wir müssen den Tod wieder zurück ins Leben holen”, fordert Janssens eindringlich. Für ihn ist der Tod kein Unfall, kein medizinisches Versagen, sondern der “sicherste Endpunkt unseres Lebens”. Doch die Realität in den Kliniken sieht oft anders aus. Patienten kommen unvorbereitet, Familien sind überfordert, Gespräche über das Ende werden vermieden, bis es zu spät ist.

Janssens gibt einen seltenen Einblick in sein Inneres, als er gefragt wird, ob ihn Patienten schon um Sterbehilfe gebeten haben. “Absolut, ganz klar”, antwortet er ohne Zögern. Und dann kommt das Aber, das seinen ethischen Konflikt zeigt: “Ich bin ganz ehrlich, ich würde es selber nicht können und wollen.” Er kann das Gift nicht reichen. Das verbietet ihm sein Verständnis von Heilung, vielleicht auch sein Gewissen.

Aber – und das ist das Entscheidende – er würde den Patienten nicht allein lassen. Er würde nicht urteilen, nicht missionieren. “Wir würden diesen Menschen begleiten… Angst, Schmerzen, Luftnot wird ihnen genommen.” Es ist ein Plädoyer für eine palliative Kultur, die den Wunsch nach dem Tod ernst nimmt, indem sie die Angst vor dem Leiden nimmt. Oft, so seine Erfahrung, verbirgt sich hinter dem Ruf nach der Todesspritze nämlich “nur” die panische Angst vor Schmerzen und Kontrollverlust.

Streitfall Sterbehilfe: Anne und Nikolaus Schneider im Gespräch

Die Kessler-Zwillinge als Spiegel unserer Ängste

Warum bewegt uns der Tod von Alice und Ellen Kessler so sehr? Vielleicht, weil sie das getan haben, wovon viele heimlich träumen: Sie haben dem Tod seinen Schrecken genommen, indem sie ihm einen Termin gaben. Sie waren wohlhabend, sie waren (für ihr Alter) fit, sie hatten einander. Und doch entschieden sie: Es ist genug. “Dass man vielleicht sein Leben gerne erfüllt beendet, bevor man so denkt: Doch hoffentlich sterbe ich bald oder es ist unerträglich”, mutmaßt Anne Schneider.

Es ist diese Autonomie, die fasziniert und gleichzeitig verstört. In einer Gesellschaft, die das Alter oft als Krankheit sieht, die es zu bekämpfen gilt, setzten die Kesslers ein radikales Zeichen. Sie warteten nicht auf den Verfall. Sie gingen aufrecht.

Fazit: Wir müssen reden – bevor es zu spät ist

Was bleibt von diesem WDR-Beitrag, ist vor allem eine Aufforderung: Sprecht miteinander! Sprecht über das Ende, solange ihr noch mitten im Leben steht. Professor Janssens warnt davor, unvorbereitet in die Mühlen der Krankenhausmedizin zu geraten. “Was ist denn dein Lebensentwurf? Was ist das gewünschte Therapieziel?” Das sind Fragen, die nicht erst auf der Intensivstation gestellt werden sollten, sondern am Küchentisch, bei einem Glas Wein, wenn es einem gut geht.

Der Tod der Kessler-Zwillinge, die ehrlichen Worte von Anne und Nikolaus Schneider, die Mahnung des Chefarztes – all das sind Puzzleteile eines Bildes, das wir uns alle ansehen müssen. Wir werden sterben. Das ist sicher. Aber wie wir sterben, das liegt zu einem großen Teil auch daran, wie mutig wir heute darüber sprechen.

Ob mit Gottvertrauen oder mit der Tablette im Nachttisch – am Ende geht es um Würde. Und die definiert jeder Mensch für sich selbst. Alice und Ellen haben ihre Definition gefunden. Wir anderen sind noch auf der Suche. Aber die Diskussion hat endlich begonnen.

Related Posts

Our Privacy policy

https://newsjob24.com - © 2025 News