Es ist still geworden in Grünwald. Dort, wo jahrzehntelang das wohl berühmteste Zwillingspaar Deutschlands residierte, herrscht nun eine Leere, die weit über die Grenzen des Münchner Vororts hinaus spürbar ist. Alice und Ellen Kessler, die „Kessler-Zwillinge“, sind nicht mehr. Am 17. November 2025 verließen sie diese Welt – nicht durch ein tragisches Unglück, nicht getrennt durch Krankheit oder Schicksalsschläge, sondern so, wie sie es immer gelebt haben: gemeinsam, selbstbestimmt und Hand in Hand. Ihr Tod durch assistierten Suizid im Alter von 89 Jahren ist mehr als nur eine Schlagzeile; es ist der letzte, konsequente Akt einer Symbiose, die in der Geschichte des Showbusiness ihresgleichen sucht.
Ein Leben im perfekten Gleichschritt
Um die Tragweite dieser letzten Entscheidung zu verstehen, muss man zurückblicken auf ein Leben, das niemals im Singular stattfand. Geboren 1936 im sächsischen Nerchau, war ihr Weg von Anfang an vorbestimmt. Ballettunterricht, Flucht aus der DDR, die großen Bühnen von Paris, Las Vegas und Rom – Alice und Ellen waren nie nur zwei Schwestern. Sie waren eine Marke, eine Einheit, ein Phänomen. „Die Beine der Nation“ nannte man sie, doch sie waren so viel mehr: Disziplinierte Arbeiterinnen im Dienst der Unterhaltung, die ihr Privatleben dem Erfolg unterordneten.
Männer kamen und gingen – Burt Lancaster, Umberto Orsini – doch geblieben ist immer nur die Schwester. „Wir sind ein zweieiiges Ich“, sagten sie einmal. Diese Verschmelzung war ihre größte Stärke, aber im Alter auch ihre größte Achillesferse. Denn wer sein Leben lang wie eine Person in zwei Körpern agiert, für den wird die Vorstellung der Trennung zur existenziellen Bedrohung.

Die Angst vor dem Alleinsein
In den letzten Jahren, als der Glanz der Scheinwerfer verblasste und die körperlichen Beschwerden zunahmen, wuchs eine stille Angst in der Villa in Grünwald. Es war nicht die Angst vor dem Tod an sich, sondern die Panik davor, übrig zu bleiben. „Die Vorstellung, dass eine von uns gehen muss und die andere allein zurückbleibt, ist für uns unerträglich“, gestanden sie in vertrauten Gesprächen.
Ellen litt zuletzt unter Herzproblemen und den Folgen eines Schlaganfalls, Alice kämpfte mit der nachlassenden Kraft. Die einstmals so perfekte Synchronität begann zu bröckeln. Für zwei Menschen, die Perfektion zu ihrem Lebensinhalt gemacht hatten, war der Kontrollverlust des Alters eine Qual. Sie wollten nicht abhängig sein, nicht gepflegt werden, nicht darauf warten, dass das Schicksal sie auseinanderreißt. Und so reifte ein Entschluss, der an Radikalität kaum zu überbieten ist: Wenn wir gehen, dann zusammen.
Der 17. November: Ein choreografierter Abschied
Der Tag ihres Todes war kein Tag der Verzweiflung, sondern der Erlösung. Berichten zufolge war alles bis ins kleinste Detail geplant – eine letzte Inszenierung, so präzise wie ihre Auftritte im Pariser „Lido“. Sie hatten sich der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) anvertraut, Juristen und Ärzte konsultiert, um sicherzustellen, dass ihr letzter Wille legal und würdevoll umgesetzt werden konnte.
Am Morgen des 17. November 2025 war das Haus in Grünwald aufgeräumt. Persönliche Dinge waren sortiert, Abschiedsbriefe geschrieben. Es heißt, sie hätten ihre letzten Stunden in ihren nebeneinanderstehenden Betten verbracht, so wie sie es oft auf Reisen in Hotelzimmern getan hatten. Es gab keine Tränen der Reue. Als das Mittel wirkte, hielten sie sich an den Händen. Alice und Ellen Kessler schliefen fast zeitgleich ein – synchron bis zum letzten Herzschlag.
Ein Vermächtnis, das bleibt

Ihr Tod hat in Deutschland eine gewaltige Debatte ausgelöst. Darf man das? Dürfen zwei Menschen, die nicht unheilbar krank im klassischen Sinne sind, sondern „lebenssatt“ und in Sorge vor der Zukunft, den Zeitpunkt ihres Todes selbst wählen? Die Meinungen gehen auseinander. Für die einen ist es ein Tabubruch, für die anderen der ultimative Beweis von Selbstbestimmung und Würde.
Die Kessler-Zwillinge haben mit ihrem Abgang ein Statement gesetzt. Sie haben gezeigt, dass Autonomie nicht am Ende des Lebens aufhört. Ihr Testament unterstreicht ihren Charakter: Das Vermögen, das sie über Jahrzehnte eisern erspart hatten, fließt an Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“, die Blindenmission und das Paul-Klinger-Künstlersozialwerk. Selbst über den Tod hinaus denken sie an andere.
Besonders rührend ist ihr letzter Wunsch bezüglich ihrer Bestattung. Es wird kein getrenntes Grab geben. Ihre Asche wird in einer einzigen Urne vereint – zusammen mit der Asche ihrer geliebten Mutter Elsa und ihres Pudels Yello. Es ist das Bild einer ewigen Familie, die im Tod wieder komplett ist.
Der letzte Vorhang
Mit Alice und Ellen Kessler verliert die Welt nicht nur zwei großartige Entertainerinnen, sondern Zeuginnen einer vergangenen Ära. Sie verkörperten Eleganz, Weltläufigkeit und eine fast preußische Disziplin, die heute selten geworden ist. Doch ihr wohl größtes Kunststück war ihr Leben selbst – und ihr Tod.
Man mag über den assistierten Suizid denken, wie man will, doch man kann den beiden den Respekt nicht verwehren. Sie haben ihr Schicksal nicht erlitten, sie haben es gestaltet. „Wir wollten nie jemandem zur Last fallen“, war ihr Credo. Diesem Prinzip sind sie treu geblieben.
Wenn wir heute an die Kessler-Zwillinge denken, sollten wir nicht das Bild zweier alter Damen sehen, die den Tod suchten. Wir sollten zwei strahlende Ikonen sehen, die in ihren glitzernden Kostümen im Gleichschritt die Showtreppe hinabsteigen – hinein in die Ewigkeit, unzertrennlich, unbesiegbar. Der Vorhang ist gefallen, der Applaus ist verhallt, aber die Legende der Kessler-Zwillinge wird niemals sterben. Sie sind jetzt dort, wo sie immer sein wollten: Zusammen. Für immer.
