Wolfgang Thierse gehört zu jenen Stimmen der Bundesrepublik, die Gewicht haben, deren Worte selten leichtfertig fallen. Als Deutschlands erster Bundestagspräsident, der aus dem Osten stammte, ist der SPD-Politiker nicht nur ein Zeitzeuge der Wende, sondern ein Architekt der Wiedervereinigung. Wenn er spricht, geht es nicht um parteipolitische Scharmützel, sondern um den Kern des Zusammenlebens. Umso bemerkenswerter und emotional aufgeladener sind seine jüngsten Aussagen, die er in der MDR-Talkshow Riverboat tätigte. Thierse sprach über den Zustand der deutschen Einheit – und offenbarte eine tiefe Frustration, die ihn zutiefst wütend, ja, traurig macht.
Seine Botschaft ist ein direkter Appell an die Menschen in Ostdeutschland, ein leidenschaftlicher Ruf zur Selbstreflexion: Er sieht die immense Leistung, die seit der Wende vollbracht wurde, doch er sieht auch die hartnäckige Weigerung vieler, diese Leistung anzuerkennen. Für Thierse ist die Wiedervereinigung per se eine Erfolgsgeschichte – aber eine, deren Akteure ihre eigene Leistung nicht feiern können oder wollen.

Die Erfolgsgeschichte, die ignoriert wird
Die erste Frage, gestellt von Moderator Joachim Lambi, trifft sofort den Nerv: „Sehen Sie das immer noch so, dass die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist?“ Thierses Antwort ist ein klares „Ja“, allerdings mit der notwendigen Einschränkung, dass man die vielen Probleme, den Ärger und die fortbestehenden Differenzen nicht übersehen dürfe. Die immense Herausforderung der Wendezeit und der Jahre danach hat die ostdeutsche Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Von der schnellen Deindustrialisierung bis zur Notwendigkeit, ein völlig neues administratives, wirtschaftliches und soziales System aufzubauen – die dramatischen Veränderungen waren für Millionen von Menschen ein Schock, ein existentieller Bruch.
Dennoch, so Thierse, „ist doch viel passiert, die meisten haben es bestanden“. Genau an diesem Punkt setzt seine Kritik an, die von persönlicher Enttäuschung getragen wird. Was ihn „ärgert und richtig wütend oder sagen wir mal traurig macht“, ist die offensichtliche Diskrepanz zwischen der objektiven Realität und der subjektiven Wahrnehmung: „dass allzu viele Ostdeutschen nicht wahrnehmen können oder wollen, was sie in dieser Zeit zustande gebracht haben“.
Diese Feststellung ist brisant, denn sie greift ein fundamentales Problem an, das seit Jahrzehnten in den Feuilletons und politischen Debatten verhandelt wird: die tief sitzenden „Minderwertigkeitskomplexe“.
Der Rucksack der Minderwertigkeit
Thierse diagnostiziert eine Art kollektiven „Rucksack an Minderwertigkeitskomplexen“, den die Menschen im Osten endlich ablegen müssten. Er argumentiert nicht naiv. Ihm sind die realen Probleme bewusst: niedrigere Löhne, geringerer Wohlstand und die unterrepräsentierte Präsenz von Ostdeutschen in Spitzenpositionen in Politik, Justiz, Medien und Wirtschaft. Doch diese Fakten, so seine zentrale These, dürfen nicht die gesamte Erzählung dominieren und ersticken.
Stattdessen, so die Beobachtung des Politikers, habe sich die „Figur vom abgehängten und benachteiligten Osten“ zu stark verselbstständigt. Sie ist zu einem Selbstläufer geworden, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die den Blick für die Fakten verstellt. „Die Leute gucken gar nicht mehr hin, was passiert ist“, konstatiert Thierse enttäuscht.
Sein persönliches Gegenbeispiel ist so einfach wie überzeugend: Leipzig. „Kann man in Leipzig sagen, das ist eine abgehängte Stadt?“, fragt er rhetorisch. Jedes Mal, wenn er in die Messestadt reise, denke er sich: „Donnerwetter, wie schön ist Leipzig geworden“. Leipzig, das im Zuge der Wende unter massivem Bevölkerungs- und Identitätsverlust litt, ist heute ein Zentrum für Kultur, Wissenschaft und Innovation, eine pulsierende Metropole, die in vielen Rankings weit vor mancher westdeutschen Stadt liegt.
Dieses Leipziger Beispiel, das Thierse als sichtbares Symbol für den Wandel anführt, verdeutlicht die Kluft, die er beklagt: Die persönliche Wahrnehmung der enormen städtebaulichen und wirtschaftlichen Entwicklung steht im krassen Gegensatz zu dem kollektiven, negativen Urteil, das sich als narratives Korsett festgesetzt hat.

Mehr als nur Mauern: Das Gefühl der Einheit
Die Einheit Deutschlands ist für Thierse weit mehr als die Wiederherstellung staatlicher Strukturen. Es geht um die emotionale und identitäre Integration. Wenn die Menschen im Osten ihre eigene Geschichte primär durch das Prisma des Mangels und der Benachteiligung sehen, wird die psychologische Einheit niemals vollständig gelingen. Der „Minderwertigkeitskomplex“ ist kein abstraktes Gefühl, sondern eine Bremse für die Zukunft.
Dieser Rucksack führt dazu, dass Erfolge kleingeredet werden, dass aus berechtigter Kritik schnell eine Fundamentalopposition wird und dass die Solidarität und das Verständnis zwischen Ost und West leiden. Es ist, als ob ein Sportler nach einem Marathonlauf, den er erfolgreich beendet hat, nicht die Medaille betrachtet, sondern nur die Blasen an seinen Füßen. Die Schmerzen waren real, die Anstrengung immens – aber das Ziel wurde erreicht, die Leistung erbracht.
Thierse, der aus einem tiefen Verständnis für die ostdeutsche Seele spricht, weiß, dass diese Komplexe historisch verwurzelt sind. Sie stammen aus der Erfahrung des Scheiterns des sozialistischen Staates, der anschließenden Übernahme westdeutscher Strukturen und dem Gefühl, in vielen Bereichen als Minderheit behandelt worden zu sein. Diese Erfahrungen sind valide. Doch seit der Wende muss man sich die Frage stellen, ab wann die Historie zur Ausrede für die Gegenwart wird. Ab wann wird die Vergangenheit zum Hindernis für die dringend notwendige, positive Selbstwirksamkeitserfahrung?

Der Ruf nach einer neuen Perspektive
Thierses Leidenschaft in der Talkshow ist spürbar. Er kämpft nicht gegen die Kritiker, sondern gegen eine Mentalität. Er fordert keine Verdrängung der Probleme, sondern eine erweiterte Sichtweise. Die niedrigeren Löhne und der geringere Wohlstand dürfen nicht die Sicht auf die Errungenschaften verstellen: auf die sanierten Innenstädte, die neu etablierten Universitäten und Forschungseinrichtungen, die beeindruckenden Infrastrukturprojekte, die florierenden Mittelständler und die beispiellose Freiheit, die gewonnen wurde.
Der ehemalige Bundestagspräsident plädiert dafür, dass die Ostdeutschen lernen, ihre Geschichte als eine Geschichte des Triumphs über die Herausforderung zu sehen, anstatt als eine Geschichte der Opferrolle. Nur wer seine eigene Stärke anerkennt, kann selbstbewusst in Verhandlungen mit dem Westen treten und seine Interessen vertreten. Ein Mensch, der sich chronisch benachteiligt fühlt, wird immer in der Defensive bleiben, unabhängig davon, wie erfolgreich er objektiv ist.
Die „Differenz zwischen dem sich verselbständigen [sic!] den negativen Urteil und der persönlichen Wahrnehmung“ müsse „endlich überwunden werden“, mahnt Thierse. Er sieht darin die einzige Möglichkeit, den Kreislauf der Verbitterung zu durchbrechen. „Sonst geht der Ärger immer weiter“, schließt er fast resigniert.
Thierses Worte sind ein wichtiges Wecksignal. Sie sind eine Mahnung an alle, die in der Vergangenheit verharren, die ihre Heimat durch eine dauerhaft graue Brille betrachten. Sie sind aber auch eine Aufforderung an die Medien und die Politik, die positiven Geschichten, die Erfolge und die selbstbewussten Stimmen des Ostens stärker in den Fokus zu rücken. Es ist an der Zeit, dass der Osten den Rucksack ablegt und sich aufrichtet – mit Stolz auf das, was in harter Arbeit aufgebaut wurde. Die Anerkennung der eigenen Leistung ist der letzte, entscheidende Schritt zur vollständigen inneren Einheit Deutschlands. Der Schmerz der Transformation darf nicht länger den Blick auf den unbestreitbaren Erfolg verstellen.