Brandenburg. Tauche. Ein verschlafener Ort, dessen Ruhe jäh von Polizeifahrzeugen und dem dröhnenden Geräusch eines Baggers zerrissen wird. Seit den frühen Morgenstunden des 14. Mai 2025 herrscht hier Ausnahmezustand. Mehr als einhundert Polizisten, forensische Experten und Spürhunde sind im Einsatz, um ein abgelegenes Grundstück Zentimeter für Zentimeter umzugraben. Sie suchen nach einem Mädchen, dessen Schicksal Deutschland seit sieben Jahren in Atem hält: Rebecca Reusch.
Die damals 15-jährige Schülerin aus Berlin-Britz verschwand am 18. Februar 2019 und wurde seither nicht mehr gesehen. Ihr Fall ist ein nationales Rätsel, ein emotionales Drama, das eine Familie zerrissen und das Vertrauen in die eigene Mitte unwiederbringlich zerstört hat. An diesem kühlen Frühlingstag richtet sich die letzte Hoffnung der Ermittler auf dieses ländliche Anwesen – das Haus der Großmutter von Florian R., dem einzigen und hartnäckigsten Tatverdächtigen in diesem ungelösten Tötungsdelikt.
Die jüngste Suchaktion ist nicht nur ein Routineeinsatz, sondern ein verzweifelter Akt der Gewissheitssuche. Sie ist die direkte Folge neuer, anonymer Informationen, die der Staatsanwaltschaft Berlin zugespielt wurden. Informationen, die den Verdacht erhärten, dass Rebecca nach ihrem Verschwinden an diesen Ort gebracht wurde, möglicherweise in nicht mehr lebendem Zustand. Oberstaatsanwalt Martin Steltner bestätigte vor laufender Kamera die Brisanz des Einsatzes: Die Ermittler glauben, dass das jahrelange Schweigen hier unter der Erde enden könnte. Die Spannung, die über dem durchweichten Boden von Tauche liegt, ist fast physisch spürbar. Liegt Rebecca wirklich nur wenige Meter unter unseren Füßen, nachdem der Fall jahrelang in den Aktenstaub zu versinken drohte?

Der Albtraum vom 18. Februar 2019
Um die Bedeutung dieses Tages zu verstehen, muss man zurückblicken in jenen kalten Berliner Wintermorgen. Rebecca, von ihren Lieben Becky genannt, verbrachte das Wochenende bei ihrer älteren Schwester Jessica und deren Mann Florian in Berlin-Britz. Sie war das Nesthäkchen der Familie, lebensfroh, verträumt, eine typische Teenagerin, die Mode liebte und Influencerin werden wollte. Am Vorabend hatte sie noch mit ihrer Schwester gelacht und Fotos auf Snapchat gepostet.
Am Montagmorgen verließ Jessica gegen 7:00 Uhr das Haus. Rebecca und Florian R. blieben zurück. Florian, der damals als zuverlässiger und ruhiger Familienmensch galt, behauptete später, er sei im Haus geblieben und habe geschlafen, während Rebecca ebenfalls noch schlief. Doch die Indizien sprachen schnell gegen ihn. Ihr Handy, das kurz nach 7:46 Uhr noch einmal im WLAN-Netz des Hauses eingeloggt war, verstummte danach für immer. Das letzte Signal. Florian R. selbst verließ das Haus nicht, sondern meldete Rebecca auch nicht als vermisst, als Jessicas besorgte Anrufe ins Leere liefen.
Die Ungereimtheiten häuften sich rasant. Bei der ersten Vernehmung verstrickte sich der Schwager in eklatante Widersprüche. Er sagte aus, zu Hause gewesen zu sein, doch Mautkameras erfassten sein Auto zweimal, kurz nach Rebeccas Verschwinden, auf der Autobahn A12 in Richtung Frankfurt (Oder) und damit in Richtung Polen. Ein Kurztrip, um Freunde zu besuchen, wie er später erklärte – eine Aussage, die niemand bestätigen konnte. Diese Fahrten, die in die Gegend von Kummersdorf Gutenbrück führten, wo sein Handy ebenfalls eingeloggt war, wurden zum Kronzeugen der Anklage.
Der Schatten des Verdachts und die gespaltene Familie
Als die Polizei am 28. Februar 2019 Florian R. festnahm, war der Schock für das ganze Land, aber vor allem für die Familie Reusch, immens. Der beliebte, vertrauenswürdige Schwager wurde über Nacht zum Hauptverdächtigen eines Tötungsdelikts. Die Beweislage war jedoch von Anfang an dünn. Die Ermittler fanden keine Spuren von Rebecca, aber auch keine eindeutigen Beweise, die Florian R. über jeden Zweifel hinaus belastet hätten.
Trotzdem gab es belastende Hinweise: Bei der Durchsuchung seines Autos fanden Kriminaltechniker Fasern, die möglicherweise zu Rebeccas Lieblingsdecke gehörten – einer Decke, die aus dem Gästezimmer verschwunden war, ebenso wie ein Kissen und natürlich ihr Handy. Die Staatsanwaltschaft sprach zwar von einem dringenden Verdacht, doch der Haftrichter ließ Florian R. mangels ausreichender Beweise wieder frei. Ein Schock, der die Familie Reusch in zwei Lager spaltete.
Brigitte Reusch, Rebeccas Mutter, verteidigte ihren Schwiegersohn vehement. “Ich glaube an seine Unschuld. Er würde Rebecca nie etwas antun,” sagte sie in Interviews. Für sie war und ist Florian R. ein Teil der Familie, der Retter, nicht der Täter. Die Tochter Jessica, Florians Ehefrau, fand sich in einem unerträglichen Dilemma wieder, gefangen zwischen ihrer Liebe zur verschwundenen Schwester und ihrem Ehemann. Der Druck der Öffentlichkeit, die mediale Hetzjagd und die endlosen Spekulationen in sozialen Medien führten dazu, dass ihre Ehe zerbrach. In ihrer Verzweiflung konnte sie nur noch den Wunsch äußern: “Ich will nur, dass meine Schwester gefunden wird.”
Dieser familiäre Zusammenhalt, dieses „Mauern des Schweigens“, war für die Ermittler Fluch und Segen zugleich. Einerseits gewährte er intime Einblicke in das Leben der Reuschs, andererseits stieß er auf eine innere Blockade. Niemand wollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ein Kind ausgerechnet von einem Familienmitglied getötet worden sein könnte.
Ein Kampf gegen das Vergessen
Nachdem die offizielle Suche im Sommer 2019 mangels konkreter Hinweise eingestellt wurde, schien der Fall Rebecca Reusch in der Versenkung zu verschwinden. Doch für die Mutter, Brigitte Reusch, begann erst der eigentliche Kampf – der Kampf gegen das Vergessen. Rebecca, das Mädchen mit dem rosa Hoodie, wurde zum Symbol für alle Eltern, deren Kinder spurlos verschwunden sind.
Die Staatsanwaltschaft gab jedoch nicht auf. Im Jahr 2020 wurde das Verfahren offiziell als Tötungsdelikt eingestuft. Rebecca galt nicht mehr als vermisst, sondern als mutmaßlich getötet. Florian R. blieb der Hauptverdächtige, ein Mann, der seitdem im Schatten des Verdachts lebt, ohne angeklagt zu werden, aber auch ohne freigesprochen zu sein.
Die Familie Reusch tat alles, um die Erinnerung wachzuhalten. Brigitte Reusch druckte hunderte von neuen Suchplakaten, verteilte sie an Raststätten, entlang der Autobahn, überall, wo eine Hoffnung auf einen Zeugen bestand. Sie kämpfte nicht nur um Gerechtigkeit, sondern um Menschlichkeit, gegen die Gerüchte und die Spekulationen, die das Bild ihrer lachenden Tochter zu verzerren drohten. Sie saß oft am Fenster, mit einem Stapel Fotos auf dem Schoß, und sprach den Satz, der Millionen von Menschen berührte: “Solange ich nicht weiß, was passiert ist, ist Rebecca für mich nicht tot.”
Die Schaufel der Wahrheit: Eine letzte, verzweifelte Hoffnung
Sieben Jahre nach der Tragödie, in einem Moment, in dem die Hoffnung fast erloschen war, belebt die neue Suchaktion in Tauche den Fall auf dramatische Weise. Die Information über das Grundstück der Großmutter von Florian R. erwies sich als so brisant, dass die Polizei keine Zeit verlor. Das Gelände, das Florian R. freien Zugang hatte und wo er sich in der Zeit nach dem Verschwinden mehrfach aufgehalten haben soll, wurde zur Zielscheibe kriminaltechnischer Detailarbeit.
Über 100 Einsatzkräfte, darunter forensische Experten und Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen, begannen am 14. Mai 2025, den Boden auf dem alten Bauernhof abzutragen. Zentimeter für Zentimeter suchten sie nach Kleidungsstücken, persönlichen Gegenständen, vor allem aber nach biologischen Spuren oder gar den Überresten der damals 15-Jährigen. Die Bilder der Drohnen, die über das Gelände kreisten, wirkten unwirklich: Zwischen verfallenen Mauern und hohem Gras suchte die Moderne Kriminalistik nach einem sieben Jahre alten Geheimnis.
Anwohner berichteten Reportern von RTL und ZDF, dass Florian R. oft hier gewesen sei, manchmal spät in der Nacht. Eine Nachbarin erinnerte sich, dass das Grundstück kurz nach Rebeccas Verschwinden neu umzäunt wurde. Damals dachte man sich nichts dabei, heute ergibt im Lichte der Ermittlungen plötzlich alles einen schrecklichen Sinn.
Die Polizei selbst hielt sich bedeckt. Nur ein einziger, knapper Satz des Einsatzleiters drang an die Öffentlichkeit: “Wir haben Material gesichert, das untersucht wird.” Ein Satz, der die Hoffnung bei Rebeccas Familie wie ein zweiseidiges Schwert durchdrang: Hoffnung auf die Wahrheit, Angst vor der Gewissheit. Für die Mutter ist jeder erneute Suchtag ein neuer Albtraum, aber auch die Chance auf ein Ende des Schreckens.

Das Ende des Schweigens?
Die Sonne sank langsam über den Feldern von Tauche, als die Ermittler ihre Arbeit einstellten. Die Kamerateams packten zusammen. Wieder einmal gab es keine unmittelbare Antwort, keine eindeutige Entdeckung, die den Fall sofort gelöst hätte. Doch die gesicherten Spuren, so erklärten Experten, könnten selbst nach sieben Jahren den Durchbruch bringen. Jedes noch so kleine DNA-Partikel, jede Faser, die mit dem Fall in Verbindung gebracht werden kann, könnte das Mosaik vervollständigen.
Der Fall Rebecca Reusch ist zu mehr geworden als nur ein Kriminalfall. Er ist ein Sinnbild für die Verletzlichkeit von Familien, für das Vertrauen, das zerbricht, und für den langen Schatten des Schweigens, der über einem Menschen – Florian R. – hängt, der juristisch auf freiem Fuß ist, aber gesellschaftlich längst verurteilt wurde.
Während die Ergebnisse der forensischen Untersuchung in Berlin mit Spannung erwartet werden, sitzt Brigitte Reusch wieder an ihrem Küchentisch. Neben ihr ein zerknittertes Suchplakat, darüber das Foto ihrer Tochter, lachend, mit glänzenden Augen. Ihre Worte hallen nach und fassen die endlose Tragödie zusammen: “Ich will wissen, was passiert ist, egal wie weh es tut.”
Die Geschichte von Rebecca Reusch hat sich in das Gedächtnis eines ganzen Landes eingebrannt. Am Ende bleibt eine einzige Frage offen, die niemand beantworten kann, solange die Leiche verschwunden ist und Florian R. schweigt: Wenn er unschuldig ist, wer hat Rebecca dann etwas angetan? Und wenn er schuldig ist, warum ist er nach sieben Jahren des Verdachts immer noch frei? Bis zur letzten Gewissheit bleibt der Fall das, was er ist: Ein unerträgliches Rätsel zwischen Hoffnung und Tragödie. Der Bagger hat seine Arbeit beendet, doch die Suche nach der Wahrheit geht weiter.