Es ist der letzte Akt einer unvergleichlichen Lebensinszenierung, ein Abschied, der so perfekt choreografiert wirkt wie ihre glanzvollen Auftritte im Pariser Lido oder im italienischen Fernsehen der sechziger Jahre. Doch diesmal gab es keinen Applaus, kein grelles Scheinwerferlicht und kein Publikum. Es gab nur zwei Schwestern, eine tiefe Stille und eine Entscheidung, die an Konsequenz und emotionaler Wucht kaum zu überbieten ist. Alice und Ellen Kessler, die berühmtesten Zwillinge der deutschen Showgeschichte, sind tot. Sie starben, wie sie 89 Jahre lang gelebt haben: gemeinsam, synchron und Hand in Hand.
Die Nachricht, die am 17. November 2025 aus dem beschaulichen Grünwald bei München um die Welt ging, löste eine Welle der Bestürzung, aber auch des tiefen Respekts aus. Die „Kesslers“, diese Ikonen der Eleganz, Disziplin und perfekten Symmetrie, haben diese Welt verlassen. Nicht durch einen tragischen Unfall, nicht getrennt durch Krankheit oder das Schicksal, sondern durch einen selbstbestimmten, assistierten Suizid. Ein Schritt, den sie lange geplant hatten und der die letzte logische Konsequenz ihrer einzigartigen Symbiose war.

Das Pakt der Unzertrennlichkeit
Schon seit Jahren war es ein offenes Geheimnis, über das die Schwestern in Interviews mit einer fast beängstigenden Nüchternheit sprachen: Die größte Angst der einen war es, ohne die andere zurückzubleiben. „Was macht die eine, wenn die andere nicht mehr da ist?“, fragte Ellen einmal in einem Gespräch. Die Vorstellung, dass eine von ihnen im leeren Haus in Grünwald sitzen würde, während das lebenslange Spiegelbild fehlte, war für beide unerträglich. Es war ein Pakt der Loyalität, der über den Tod hinausging.
Wie nun bekannt wurde, trafen sie die endgültige Entscheidung nicht aus einer impulsiven Laune heraus. Es war ein Prozess, der – typisch für die Kesslers – von preußischer Disziplin und klarer Struktur geprägt war. Als die körperlichen Kräfte nachließen, die Gelenke schmerzten und die einstmals so berühmten „Beine der Nation“ nicht mehr so wollten wie früher, begannen sie, ihren Abgang zu planen. Sie traten dem Verein für Sterbehilfe bei, ordneten ihren Nachlass und bereiteten sich auf das Ende vor, als wäre es eine letzte Tournee.
Die letzten Stunden in Grünwald
Berichte aus ihrem engsten Umfeld zeichnen das Bild eines fast feierlichen Abschieds. Die Tage vor dem 17. November waren nicht von Panik oder Verzweiflung geprägt, sondern von einer friedlichen Melancholie. In ihrem Haus in Grünwald, das über Jahrzehnte ihr gemeinsamer Rückzugsort war, verbrachten sie die letzte Zeit damit, Erinnerungen zu sortieren. Man stellt sich vor, wie sie im Wohnzimmer saßen, alte Fotoalben auf dem Schoß – Bilder von Frank Sinatra, mit dem sie tanzten, von Harry Belafonte, von den großen Galas in Rom und Paris.
Es heißt, sie hätten noch einmal ihre Lieblingsmusik gehört – italienische Chansons, die sie an ihre Zeit als Superstars in Italien erinnerten, wo sie als „Le Gemelle Kessler“ verehrt wurden. Sie tranken Tee, sprachen wenig, denn Worte waren zwischen Alice und und Ellen oft überflüssig. Ein Blick genügte, um zu wissen, was die andere dachte. Diese telepathische Verbindung, die sie auf der Bühne so faszinierend machte, war auch im Angesicht des Todes ihr stärkster Halt.
Am Montag, dem 17. November, war es dann soweit. Berichten zufolge verlief alles ruhig. Begleitet von Ärzten und einem Juristen, entschliefen sie friedlich. Es gab keinen Kampf, keine Tränen der Reue. Als die Einsatzkräfte später eintrafen, fand man sie so vor, wie die Welt sie kannte: vereint. Es ist ein Bild, das fast mythische Züge trägt – zwei Seelen, die sich weigerten, vom Tod getrennt zu werden.

Ein Leben im absoluten Gleichklang
Um die Tragweite dieser Entscheidung zu verstehen, muss man auf das Leben zurückblicken, das Alice und Ellen Kessler führten. Geboren 1936 im sächsischen Nerchau, flohen sie in den 50er Jahren in den Westen. Ihre Karriere war beispiellos. Sie waren nicht einfach nur Zwillinge; sie waren eine Marke, eine Einheit. Im Pariser „Lido“ verzauberten sie das Publikum, beim Eurovision Song Contest 1959 vertraten sie Deutschland.
Doch der Preis für diesen Ruhm war hoch. Während andere Stars heirateten, Kinder bekamen und sich scheiden ließen, blieben die Kesslers allein – oder besser gesagt: zu zweit. Männer gab es in ihrem Leben, sicherlich. Alice war lange mit dem französischen Chansonnier Marcel Amont liiert, Ellen mit dem Schauspieler Umberto Orsini. Doch keine dieser Beziehungen konnte der Bindung standhalten, die die Schwestern zueinander hatten. „Wir sind uns selbst genug“, sagten sie oft. Die Ehe, so schien es, wäre ein Einbruch in ihre geschlossene Welt gewesen, eine Störung der perfekten Symmetrie.
Sie teilten sich nicht nur die Bühne, sondern auch das Bett, das Haus, das Leben. Bis ins hohe Alter hinein lebten sie unter einem Dach, Tür an Tür. Wenn eine krank war, pflegte die andere sie. Wenn eine lachte, lachte die andere mit. Sie waren, wie sie es selbst einmal ausdrückten, „eins und eins ist eins“.
Der Mut zur Selbstbestimmung
Der gemeinsame Freitod der Kessler-Zwillinge wird sicherlich Diskussionen auslösen. Konservative Stimmen mögen ihn kritisieren, doch für die meisten Bewunderer ist er der ultimative Beweis ihrer Charakterstärke. In einer Gesellschaft, die den Tod oft verdrängt und das Alter in Heime abschiebt, setzten Alice und Ellen ein radikales Zeichen der Selbstbestimmung. Sie wollten nicht warten, bis Demenz oder Pflegebedürftigkeit ihre Würde untergruben. Sie wollten die Regie über ihr Leben nicht aus der Hand geben – bis zur allerletzten Szene.
„Wir haben unser Leben selbst bestimmt, also bestimmen wir auch unser Ende“, soll Alice kurz vor ihrem Tod gesagt haben. Es ist dieser Satz, der bleibt. Er zeugt von einer Generation von Frauen, die sich ihre Unabhängigkeit hart erkämpfen mussten und sie nie wieder losließen.

Ein Erbe, das bleibt
Was bleibt, ist die Erinnerung an zwei außergewöhnliche Frauen, die die deutsche Nachkriegsunterhaltung geprägt haben wie kaum jemand sonst. Aber mehr noch als ihre Lieder und Tänze wird ihre Geschichte als Schwestern in Erinnerung bleiben. Sie haben uns gezeigt, was es heißt, einen Menschen bedingungslos zu lieben und ihm treu zu bleiben – über alle gesellschaftlichen Normen und sogar über den Tod hinaus.
Die Urne, in der sie beigesetzt werden, wird beide enthalten. Auch das war ihr Wunsch: In einer einzigen Urne bestattet zu werden, am besten bei ihrer Mutter. Selbst in der Asche wollen sie nicht getrennt sein.
Deutschland verneigt sich vor Alice und Ellen Kessler. Ihr Abgang war traurig, ja. Aber er war auch wunderschön in seiner Konsequenz. Sie sind nun fort, aber sie sind zusammen. Und man hat das tröstliche Gefühl: Genau so musste es sein. Der Vorhang ist gefallen, das Licht ist aus, aber die beiden Stars halten sich im Dunkeln noch immer fest an den Händen.