Er ist der unbestrittene Pate des deutschen Straßenraps, der „Babo“, der den Slang einer ganzen Generation prägte. Doch Aykut Anhan, besser bekannt als Haftbefehl, kehrt diesmal nicht mit donnernden Beats und Frankfurter Attitüde zurück, sondern mit einer leisen, fast melancholischen Revolution, die die Gemüter erhitzt. Nur einen Monat nach der Veröffentlichung seiner schonungslosen Netflix-Dokumentation, die einen Mann am Abgrund zeigte, veröffentlicht der 39-Jährige seine neue Single „Dünya Garip“. Doch statt Applaus hagelt es Kritik aus einer Ecke, die ihm sonst bedingungslos den Rücken stärkte: seiner eigenen Community.

Der sprachliche Tabubruch: Türkisch statt Kurdisch?
Es ist ein Novum in der Diskografie des Offenbachers: Zum ersten Mal in seiner Karriere rappt und singt Haftbefehl einen Song komplett auf Türkisch. „Dünya Garip“ (zu Deutsch etwa „Seltsame Welt“) ist eine düstere Ballade über Gier, Entwurzelung und die Kälte der modernen Gesellschaft. Musikalisch ist das Stück, produziert vom Duo Oddworld, ein atmosphärisches Meisterwerk. Doch politisch und kulturell ist es für viele seiner Fans ein Schlag ins Gesicht.
Haftbefehl hat Wurzeln in der kurdischen Zaza-Bevölkerung Ost-Anatoliens. In einer Zeit, in der die kurdische Identität politisch oft unter Druck steht, hatten viele seiner Anhänger gehofft, dass der einflussreichste Rapper Deutschlands seine Stimme nutzt, um genau diese Wurzeln zu stärken. Dass er sich nun ausgerechnet für die türkische Sprache entscheidet, werten radikale Kritiker in den sozialen Netzwerken als „Verrat“ oder zumindest als „verpasste historische Chance“.
„Warum singst du in der Sprache derer, die unsere Kultur unterdrücken?“, fragt ein User auf Instagram. Ein anderer kommentiert enttäuscht: „Du bist Zaza, zeig das auch!“ Die Kontroverse zeigt, wie schmal der Grat ist, auf dem sich Künstler mit Migrationshintergrund bewegen. Für Haftbefehl selbst scheint der Song jedoch weniger ein politisches Statement als vielmehr ein emotionaler Ausbruch zu sein. Es ist die Sprache seiner Jugend in Offenbach, die Sprache seiner Mutter, ein Teil seiner komplexen Identität, die sich nicht in einfache Schubladen stecken lässt.
„Dünya Garip“: Ein Spiegel der zerrissenen Seele
Inhaltlich knüpft „Dünya Garip“ nahtlos an die düstere Stimmung seiner jüngsten Vergangenheit an. Der Song zeichnet das Bild einer vergifteten Gesellschaft. „Die Herzen sind arm und dunkel“, heißt es in einer übersetzten Zeile. Es geht um eine Jugend, die von Konsumrausch und Gewalt geblendet ist, und um die tiefe Sehnsucht nach einem Ort, an dem man einfach nur Mensch sein darf.
Diese Melancholie kommt nicht von ungefähr. Wer die Netflix-Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl-Story“ gesehen hat, weiß, durch welche Höllen Aykut Anhan gegangen ist. Der Film ist kein gewöhnliches Musiker-Porträt, sondern ein verstörendes Dokument des Verfalls. Millionen Zuschauer sahen einen Haftbefehl, der kaum noch sprechen konnte, gezeichnet von massivem Kokainkonsum, der vor laufender Kamera „Lines“ zog und offen zugab: „Ich war schon tot.“
Der neue Song wirkt wie der Kater nach diesem Rausch. Er ist leiser, nachdenklicher. Es ist nicht mehr der aggressive Straßenrapper, der „Chabos wissen, wer der Babo ist“ brüllt. Es ist ein Mann, der überlebt hat, aber dessen Narben noch frisch sind.

Das Drama hinter den Kulissen: Nina und der Kampf ums Überleben
Die Diskussion um den türkischen Song darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Haftbefehl gerade den schwersten Kampf seines Lebens führt. Die Dokumentation legte offen, wie sehr seine Sucht seine Familie belastete. Seine Frau Nina Anhan wurde zur stillen Heldin des Films – eine Frau, die den Laden zusammenhielt, während ihr Mann im Drogenwahn versank und sein Vermögen verprasste.
Bei seinen ersten Auftritten nach der Doku-Premiere, unter anderem in Osnabrück und Gießen, präsentierte sich Haftbefehl maskiert. Ein Tuch bis über die Nase gezogen, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen – ein Schutzmechanismus? Auf der Bühne in Osnabrück griff er zum Mikrofon und machte die Ansage, auf die alle gewartet hatten: „Ich bin clean. Und ich hoffe, ihr bleibt es auch. Scheiß auf Drogen!“
Doch die Auftritte wirken skurril. In Gießen stand er nur 15 Minuten auf der Bühne, warf Geldbündel ins Publikum und verschwand wieder. Ist er wirklich über den Berg? Oder ist die Maskierung ein Zeichen dafür, dass er sich noch nicht bereit fühlt, der Welt sein „neues“ Gesicht zu zeigen? Experten warnen, dass der Weg aus einer jahrelangen Kokainsucht lang und steinig ist. Die bloße Aussage „Ich bin clean“ ist ein erster Schritt, aber keine Garantie.
Ein Künstler, der Grenzen sprengt
Trotz der Kritik der kurdischen Community und der Sorgen um seinen Gesundheitszustand beweist Haftbefehl mit „Dünya Garip“ einmal mehr seinen künstlerischen Mut. Im deutschen Rap-Geschäft, das oft nach strikten Marketing-Regeln funktioniert, macht er einfach, was er will. Er ignoriert Erwartungshaltungen – sei es die der Musikindustrie, die den nächsten Club-Hit fordert, oder die seiner eigenen Ethnie, die politische Solidarität verlangt.
Haftbefehl war schon immer mehr als nur ein Rapper. Er ist eine Integrationsfigur, die paradoxerweise durch ihre Zerrissenheit verbindet. Er verkörpert das Chaos, die Widersprüche und den Schmerz einer Generation, die zwischen den Kulturen steht. Dass er nun auf Türkisch singt, mag manche enttäuschen, aber es ist authentisch. Aykut Anhan ist kein Politiker, er ist ein Musiker, der seine Emotionen vertont.
Fazit: Die Ruhe vor dem nächsten Sturm?
Die Veröffentlichung von „Dünya Garip“ ist ein wichtiges Lebenszeichen. Sie zeigt: Der Künstler Haftbefehl ist noch da, kreativ und unberechenbar wie eh und je. Die heftigen Reaktionen zeigen aber auch, wie groß die Projektionsfläche ist, die er bietet. Er wird geliebt, kritisiert, beneidet und bemitleidet – oft alles gleichzeitig.
Ob der Song der Beginn einer neuen, internationalen Karrierephase ist oder ein einmaliges Experiment bleibt, wird die Zeit zeigen. Viel wichtiger ist jedoch die Frage, ob der Mensch Aykut Anhan den Weg aus der Dunkelheit dauerhaft findet. Seine Fans – egal ob Kurden, Türken oder Deutsche – wünschen sich am Ende wohl vor allem eines: Dass ihr Idol überlebt. Und vielleicht ist „Dünya Garip“ genau der Soundtrack zu diesem Überlebenskampf.