Es ist ein Phänomen, das die Gesetze der Musikindustrie scheinbar mühelos aushebelt. Während Popstars kommen und gehen, stehen sie seit Jahrzehnten wie Felsen in der Brandung: die Kastelruther Spatzen. Doch hinter der Fassade der ewigen Volksmusik-Idylle brodelt es. In einem bewegenden und ungewöhnlich offenen Interview gewährt Frontmann Norbert Rier (65) nun tiefe Einblicke in sein Seelenleben, spricht über die unerwartete Verjüngung seines Publikums und offenbart, wie knapp er davor war, seiner legendären Heimat in den Dolomiten für immer den Rücken zu kehren.
Es ist ein kühler Herbsttag in Südtirol, als Norbert Rier, die unverkennbare Stimme der erfolgreichsten Volksmusikgruppe aller Zeiten, Bilanz zieht. Das neue Album „Dolomiten“ ist seit dem 10. Oktober auf dem Markt, das 39. Spatzenfest ist gerade erst verklungen, und doch wirkt der Sänger nachdenklicher als sonst. Es sind nicht nur die Erfolge, die ihn beschäftigen, sondern die fundamentalen Fragen des Lebens: Heimat, Anerkennung und die eigene Endlichkeit.

Die unerwartete Revolution: Wenn Teenager Volksmusik hören
Wer bei einem Konzert der Kastelruther Spatzen ausschließlich ein gesetztes Publikum erwartet, reibt sich mittlerweile verwundert die Augen. „Es ist immer wieder unglaublich“, gesteht Rier mit einem fast ungläubigen Lächeln. Eine neue Generation hat die Liebe zur volkstümlichen Musik entdeckt – und sie schämen sich nicht mehr dafür.
„Viel junges Publikum ist dazugekommen“, berichtet der Frontmann. Früher, so scheint es, war Volksmusik für Jugendliche ein heimliches Laster, etwas, das man vielleicht bei den Großeltern hörte, aber niemals vor den Freunden zugab. Diese Zeiten sind vorbei. Die jungen Fans kommen heute aktiv auf die Band zu und gestehen: „Mit eurer Musik sind wir groß geworden.“
Es ist eine stille Revolution in den Konzerthallen. Diese jungen Menschen, die in einer Welt voller digitaler Hektik und Unsicherheit aufwachsen, suchen offenbar genau das, was die Spatzen seit fast einem halben Jahrhundert bieten: Beständigkeit, Werte und ein Gefühl von Geborgenheit. „Sie trauen sich mittlerweile zuzugeben, dass ihnen diese Art von Musik gefällt“, freut sich Rier. Dass sie die Texte mitsingen und großen Wert auf die Inhalte legen, ist für die Band der größte Beweis, dass ihre Botschaft zeitlos ist.
Fluchtgedanken: Als Norbert Rier Kastelruth verlassen wollte
Doch die Idylle, die die Spatzen in ihren Liedern besingen, war für Norbert Rier persönlich nicht immer selbstverständlich. In einem Moment seltener Offenheit gibt der 65-Jährige zu, dass es Zeiten gab, in denen ihm die Decke auf den Kopf fiel. Kastelruth, der Ort, der untrennbar mit dem Namen der Band verbunden ist, schien ihm einst zu eng zu werden.
„Es war mal ein bisschen so ein Wunschtraum in den jüngeren Jahren, nach Deutschland in eine andere Bergregion zu gehen“, gesteht er. Ein Gedanke, der für die treuen Fans einem Erdbeben gleichkommt. Der Ober-Spatz fernab der Heimat? Unvorstellbar.
Dass es nicht dazu kam, verdankt die Welt – und vor allem die Fangemeinde – Riers Ehefrau. Sie war es, die damals ein Machtwort sprach. „Da würde sie nicht mitgehen, und das wäre nichts für sie“, erinnert sich Rier an ihre klaren Worte. Heute weiß er: Sie hatte recht. „Zuhause ist eben immer dort, wo man sich wohlfühlt.“ Diese geerdete Haltung hat ihn davor bewahrt, sich in der großen Welt zu verlieren. Die Dolomiten sind nicht nur Kulisse, sie sind Anker und Kraftquelle zugleich.
Der Schmerz über das Echo-Aus
Trotz aller Bodenständigkeit nagt ein Thema noch immer am Herzen des Sängers: das Ende des Musikpreises Echo. Für die Kastelruther Spatzen war diese Auszeichnung mehr als nur eine Trophäe für die Vitrine. 13 Mal durften sie den Preis entgegennehmen – ein Rekord, der für die Ewigkeit steht.
„Dass es den Musikpreis nicht mehr gibt, findet man schon schade“, sagt Rier mit einer spürbaren Wehmut in der Stimme. Der Echo war für die Band ein Symbol der Dankbarkeit und der offiziellen Anerkennung einer Branche, die die Volksmusik oft belächelt hat. „Man hat gemerkt, dass es gut läuft, dass wir das alles gut gemacht haben“, resümiert er.
Für die Musiker aus Südtirol waren die Verleihungen glamouröse Ausflüge in eine andere Welt, Momente, in denen sie Weltstars persönlich treffen durften. Anfangs, so gibt Rier zu, war ihnen die Tragweite gar nicht bewusst. Erst im Rückblick verstehen sie, welch gewaltige Ehre es war, diese „größte Auszeichnung“ immer wieder in Händen zu halten. Das Fehlen dieses Preises hinterlässt eine Lücke – nicht im Regal, sondern im Gefühl der Wertschätzung für ein ganzes Genre.

Die Macht der Tracht und die Treue zum Stil
In einer Zeit, in der sich Künstler ständig neu erfinden müssen, um relevant zu bleiben, haben die Spatzen einen anderen Weg gewählt: radikale Beständigkeit. Experimente? Ja, die gab es, aber sie waren von kurzer Dauer. Rier erinnert sich an das Lied „Ich schwör“, das musikalisch aus der Reihe tanzte. „Das kam beim jungen Publikum ganz gut an, aber sonst irgendwie andere Stilrichtungen zu gehen, wäre nicht ideal“, erklärt er.
Die Fans wollen keine Experimente, sie wollen die Spatzen, wie sie sie kennen und lieben. Dazu gehört auch die berühmte Tracht. Was für Außenstehende wie ein Kostüm wirkt, ist für die Bandmitglieder Arbeitskleidung und Identitätsmerkmal zugleich. „Wir sind bekannt dafür und haben sie Gott sei Dank beibehalten“, sagt Rier pragmatisch. Keine lästigen Überlegungen vor dem Auftritt, was man anziehen soll, kein Modediktat – die Tracht ist zeitlos und befreit von Eitelkeiten. Man muss voll hinter dem stehen, was man macht, lautet Riers Credo. Authentizität ist die Währung, die in Kastelruth zählt.
Gesundheit, Stress und die Sehnsucht nach Ruhe
Doch der jahrzehntelange Erfolg fordert seinen Tribut. Norbert Rier ist nicht mehr der junge Bursche, der unermüdlich von Bühne zu Bühne springt. Die Gesundheit ist ein kostbares Gut geworden, dessen Zerbrechlichkeit er sich bewusst ist. Als Frontmann steht er ständig im Fokus, jede Bewegung, jedes Wort wird beobachtet.
Sein größter Wunsch für die Zukunft ist deshalb nicht noch mehr Gold oder Platin, sondern Zeit. „Sich ein bisschen zurückzuziehen und mehr Zeit zu nehmen, um den Stress beiseite zu legen und alles gemütlich anzugehen“, das ist sein Ziel. Er hofft, dass ihm dieser Balanceakt in Zukunft besser gelingt, denn der Perfektionist in ihm will es „gerne immer allen recht machen“ – eine Eigenschaft, die oft zur Erschöpfung führt.
Er hofft, dass es „gesundheitlich noch eine Zeit lang recht gut läuft“. Es sind bescheidene Wünsche eines Mannes, der alles erreicht hat.
Musik als Heilmittel in einer kranken Welt
Am Ende des Gesprächs wird Norbert Rier philosophisch. Er blickt auf die Weltlage, auf die Nachrichten von Krieg, Gewalt und Hektik, die uns täglich überfluten. In genau diesem Kontrast sieht er die Daseinsberechtigung seiner Musik.
„Mit den Liedern möchte man ja keine Welt verändern“, stellt er klar. Es geht nicht um große Politik. Es geht um den kleinen Frieden im Herzen. „Wir wollen nur einen Anstoß geben, zu bestimmten Themen ein bisschen nachzudenken.“ Vor allem aber wollen die Spatzen unterhalten, die Menschen für ein paar Stunden aus ihrem sorgenvolle Alltag herausholen.
„In unserer Zeit mit dem ganzen Stress, der Hektik und dem ganzen Drumherum mit Gewalt und Krieg ist es umso wichtiger, sich mal zurückzulehnen, abzuschalten und zu genießen“, schließt Rier. Und vielleicht ist genau das das Geheimnis, warum plötzlich auch Zwanzigjährige in der ersten Reihe stehen und Tränen in den Augen haben, wenn Norbert Rier von den Bergen und der Liebe singt. In einer Welt, die aus den Fugen gerät, ist die heile Welt der Kastelruther Spatzen kein Kitsch, sondern ein notwendiger Zufluchtsort für die Seele.
Das Album „Dolomiten“ und die Worte von Norbert Rier sind eine Einladung: zum Innehalten, zum Fühlen und zum Nachhausekommen – egal, wie alt man ist.