In einer Zeit, in der das politische Vertrauen so zerbrechlich ist wie ein trockenes Blatt im Herbst, ist die Währung der Glaubwürdigkeit das einzige, was einem Staatsmann noch bleibt. Doch was passiert, wenn diese Währung durch die Taten – oder genauer gesagt, durch die Worte – des höchsten Mannes im Staat systematisch entwertet wird? Ein Video, das derzeit in den sozialen Netzwerken kursiert, stellt genau diese Frage, und es tut dies mit einer brutalen, unerbittlichen Wucht. Der Titel: “Lügen im Videobeweis!”. Im Fadenkreuz: Friedrich Merz.
Das Video ist kein professionell geschnittenes Propagandastück einer rivalisierenden Partei. Es ist eine rohe, fast 10-minütige Zusammenstellung von öffentlichen Auftritten, Reden und Interviews. Sein einziger Zweck ist es, die unzähligen Selbstwidersprüche des Mannes an der Spitze der CDU und der Regierung offenzulegen. Es ist ein digitaler Pranger, der eine schmerzhafte Anklage erhebt: Dieser Mann lügt. Nicht nur einmal, nicht aus Versehen, sondern systematisch, unverschämt und in fast jedem wichtigen Politikfeld.
Die Anklage des Videos ist klar: Die Regierung, so der Sprecher, sei “eine der schlimmsten, wenn es um die Wahrheit geht”. Während die CDU, konfrontiert mit dem Erstarken der AfD in den Umfragen und vor wichtigen Landtagswahlen, eine “Schmutzkampagne” gegen die Opposition fahre und mit “so viel Dreck wie es nur möglich ist” werfe, demontiere sich ihr eigener Anführer selbst.

Das Video ist ein unbarmherziges Sperrfeuer von Widersprüchen, das den Zuschauer fassungslos zurücklässt. Es ist eine Studie über politische Flexibilität, die an Opportunismus grenzt, oder, wie die Macher des Videos es nennen würden, an offener Lüge.
Nehmen wir das Herzstück deutscher Wirtschaftspolitik: den Sozialstaat und die Schuldenbremse. In einem Moment hören wir Merz, wie er mit der Härte eines Wirtschaftsreformers erklärt, der Sozialstaat sei “mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar”. Eine kalte Dusche, ein Aufruf zu “Karlschlag” und “Sozialabbau”. Doch nur wenige Momente später, vermutlich vor einem anderen Publikum, hören wir denselben Mann beschwichtigen: “Wir wollen ihn nicht schleifen, wir wollen ihn nicht abschaffen, wir wollen ihn nicht kürzen”. Was gilt nun? Die harte Wahrheit oder die beruhigende Lüge? Das Video lässt den Schluss zu: Was auch immer gerade Applaus bringt.
Noch eklatanter wird es bei der “heiligen Kuh” der CDU, der Schuldenbremse. Mit der unumstößlichen Gewissheit eines Überzeugungstäters schließt Merz eine “Aufweichung… heute von dieser Stelle aus… hier erneut aus”. Ein Pakt mit dem Wähler, ein Symbol für finanzielle Solidität. Doch der nächste Clip zerreißt diesen Pakt. Da schlägt Merz vor, das Grundgesetz zu ändern, um “notwendige Verteidigungsausgaben” von den “Beschränkungen der Schuldenbremse freizustellen”. Das ist nicht nur eine “Aufweichung” – es ist ein gezieltes Loch in der Größe von Dutzenden Milliarden Euro. Später behauptet er sogar, ein Kanzler Merz würde “nichts ändern”. Der Wähler steht kopfschüttelnd da: Wird die Bremse nun verteidigt, gelockert oder ignoriert? Die Antwort lautet “Ja”.
Dieses Muster der doppelten Zunge zieht sich durch jedes Thema, das für das Land von entscheidender Bedeutung ist.
Die Energiepolitik: Merz schäumt vor Wut über die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke, nennt es ein “Maß an Ignoranz, Dämlichkeit, Verantwortungslosigkeit und Schwachsinn, wie man ihn überhaupt nicht überbieten kann”. Starke Worte, die vielen Bürgern aus der Seele sprechen. Doch die Taten, die auf diese Worte folgten, waren… nichts. Der Zorn verpuffte, ein typischer Merz.
Die Migration: Hier wird die Schizophrenie fast schmerzhaft. Erst der Hardliner, der “ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen” fordert, ein “faktisches Einreiseverbot”. Dann der gemäßigte Staatsmann, der versichert: “Niemand von uns spricht über Grenzschließungen… niemand von uns will die Grenzen schließen”. Es ist der Versuch, der AfD die Wähler abzujagen und gleichzeitig die Mitte nicht zu verprellen – und am Ende verprellt er alle, weil ihm niemand mehr glaubt. Der Gipfel ist seine Tirade gegen die Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan (“Sind wir denn wahnsinnig geworden?”), nur um im nächsten Satz auf die “Rechtsverpflichtung” zu verweisen, die man nunmal einhalte.
Die Außenpolitik: Das Video entlarvt eine Haltung, die man nur als windelweich bezeichnen kann. Friedrich Merz nach dem Sturm auf das Kapitol über Donald Trump: Er sei eine “ernstzunehmende große Gefahr für die Demokratie”. Friedrich Merz nach einem persönlichen Treffen mit Donald Trump: Er sei “außerordentlich zufrieden”, prahlt mit der Einladung ins Gästehaus und einem “guten Gespräch”. Von der “Gefahr” kein Wort mehr. Es ist das Bild eines Mannes, der vor der Macht kuscht, die er eben noch verdammt hat.
Oder Israel: Ein Thema, bei dem Worte mit Gold aufgewogen werden sollten. Merz kündigt an, eine “von mir geführte Bundesregierung” werde das “faktische Exportembargo… umgehend beenden”. Ein starkes, klares Versprechen. Doch nur wenige Augenblicke später im Video kommt die unbegreifliche Kehrtwende: “Solidarität mit Israel bedeutet nicht, dass wir jede Entscheidung… für gut halten… bis hin zu militärischer Unterstützung durch Waffen. Das tun wir nicht. Das wollen wir nicht.”. Man muss den Satz zweimal lesen: Er verspricht, ein Waffenembargo zu beenden, nur um zu erklären, dass man keine Waffen liefern wolle? Das ist nicht mehr nur ein Widerspruch, das grenzt an politische Verwirrung.
Das Video ist verheerend, weil es keine Kommentatoren braucht. Es lässt Friedrich Merz sich selbst demontieren. Es zeigt seine Unentschlossenheit im Umgang mit der AfD – mal will er sie “halbieren”, mal “härter auseinandersetzen”, mal “müssen wir auch nicht in jeder Präsidiumssitzung etwas Neues entscheiden”. Es zeigt, wie er große Reden ankündigt, einen “Herbst der Reformen”, nur um sofort zurückzurudern, als Journalisten nach der berühmten “Ruckrede” fragen – da war die Erwartungshaltung plötzlich “an der falschen Stelle geäußert”.
Die Macher des Videos haben eine klare Agenda. Der Sprecher verhöhnt die “russischen Drohnen” und die Nord-Stream-Erzählung als Lügen, stellt die öffentlich-rechtlichen Medien (ARD, ZDF) als Komplizen dar und kündigt offen an, bei der nächsten Landtagswahl sein “Kreuzchen” bei der Opposition zu machen.

Das Video ist damit selbst ein politisches Kampfmittel, keine Frage. Aber seine Waffe ist echt. Die Munition besteht aus den Worten, die Friedrich Merz selbst gesprochen hat.
Wir erleben den Zusammenbruch der politischen Glaubwürdigkeit in Echtzeit. In dieser neuen, digitalen Arena, in der jeder alles nachschlagen kann, wird das Wort eines Politikers wertlos, wenn es nicht einmal mehr die Dauer eines Nachrichtenzyklus überlebt. Dieses Video wirft eine fundamentale Frage auf: Wie soll ein Land geführt werden, dessen Führung nicht einmal mehr den Anschein von Konsistenz und Wahrheit wahren kann?
Die “Lügen im Videobeweis” sind mehr als nur ein viraler Hit. Sie sind ein Symptom für eine tiefe Krankheit im Herzen unserer Demokratie: ein Vertrauensbruch, der so laut ist, dass er auch ohne Ton zu verstehen ist. Es ist der Beweis, dass in der Politik von Friedrich Merz die Wahrheit nur noch eine von vielen Optionen ist – und meistens die, die als letzte gewählt wird.