Alarm im Norden: Putins neue Front bedroht Charkiw – Die brutale Strategie der Gleitbomben und der Wettlauf gegen die Zeit

Ein Gefühl der unheilvollen Vorahnung liegt über der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Charkiw, eine Metropole, die seit über zwei Jahren dem russischen Angriff trotzt, sieht sich einer neuen, existenziellen Bedrohung gegenüber. Russland hat eine neue Front im Norden eröffnet, eine Offensive, die nicht nur die strategische Landkarte des Krieges neu zeichnet, sondern auch die Moral und die Ressourcen der ukrainischen Verteidiger auf eine Zerreißprobe stellt.

Die Lage ist, um es mit den Worten von Reportern vor Ort wie Steffen Schwarzkopf vom Nachrichtensender WELT auszudrücken, “extrem angespannt”. Im Zentrum dieses neuen Infernos steht die Stadt Wowtschansk, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Sie ist Schauplatz schwerster Kämpfe. Russische Truppen versuchen, die Stadt einzukesseln, während die ukrainischen Verteidiger verzweifelt dagegenhalten.

Doch dies ist kein klassischer Bodenkrieg, kein Kampf um jeden Meter im Stil des Ersten Weltkriegs, obwohl die Bilder von Schützengräben dies vermuten lassen könnten. Die Realität, so berichten es die Verteidiger, ist eine andere. “Die Russen machen am Boden kaum Meter”, erklärt Schwarzkopf in seinem Bericht. Der wahre Horror kommt aus der Luft.

Russland setzt auf eine Taktik der brutalen Zerstörung aus der Distanz. Massiver Artilleriebeschuss, Luftangriffe und vor allem der Einsatz von sogenannten Gleitbomben verwandeln Wowtschansk systematisch in eine Geisterstadt. Die Zerstörung ist katastrophal. Zivilisten, die so lange ausgeharrt hatten, fliehen nun in Scharen oder werden evakuiert. Die Stadt blutet aus, bevor sie überhaupt gefallen ist.

Dieses Vorgehen offenbart eine kalte, dreiteilige Strategie Moskaus, die weit über die Einnahme einer einzelnen Stadt hinausgeht.

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Teil 1: Die Höllenwaffe “Gleitbombe”

Um die neue Phase des Krieges zu verstehen, muss man die Waffe verstehen, die sie definiert. Gleitbomben, oft als “FABs” (russische Abkürzung für “Allzweck-Fliegerbombe”) bezeichnet, sind im Grunde massive, ungelenkte Bomben aus Sowjetzeiten, die mit einfachen Flügel- und Navigationskits (UMPK-Modulen) nachgerüstet wurden.

Diese Modifikation verwandelt “dumme” Bomben in präzisionsgelenkte Albtraumwaffen. Von Flugzeugen in großer Höhe und aus sicherer Entfernung – oft 40 bis 60 Kilometer hinter der Frontlinie – abgeworfen, segeln diese Bomben auf ihre Ziele zu. Sie tragen Hunderte, manchmal Tausende Kilogramm Sprengstoff. Ihre Zerstörungskraft ist enorm, weit größer als die von herkömmlicher Artillerie oder Mörsern. Ein Einschlag kann einen befestigten Bunker oder ein mehrstöckiges Gebäude pulverisieren.

Für die ukrainischen Truppen sind sie ein fast unlösbares Problem. Da die Bomben selbst keinen Antrieb haben, sind sie für herkömmliche Luftabwehrsysteme schwer zu erfassen. Die einzige wirkliche Abwehrmaßnahme wäre der Abschuss der Trägerflugzeuge (wie Su-34 oder Su-35), bevor sie die Bomben abwerfen können. Doch dafür fehlt es der Ukraine an ausreichenden Luftverteidigungssystemen wie Patriot oder an modernen Kampfflugzeugen wie der F-16, die tief im russischen Luftraum operieren könnten.

Die Russen nutzen diese Lücke gnadenlos aus. Ein ukrainischer Soldat beschreibt den Kampf als surreal: “Sie kommen in Wellen. Wir schlagen eine Welle zurück, und die nächste kommt.” Doch zwischen den Infanteriewellen regnet es Sprengstoff vom Himmel, der die Verteidigungslinien zermürbt, bevor der eigentliche Bodenkampf beginnt.

Teil 2: Die Strategie der “Pufferzone”

Warum dieser plötzliche Vorstoß in Charkiw, einer Region, die die Ukraine 2022 unter großem Jubel befreit hatte? Die offizielle Begründung Russlands, und eine, die Militäranalysten für plausibel halten, ist die Schaffung einer “Pufferzone”.

Die russische Grenzstadt Belgorod ist in den letzten Monaten immer wieder Ziel ukrainischer Drohnen- und Artillerieangriffe geworden. Diese Angriffe, obwohl militärisch von begrenztem Wert, haben eine enorme psychologische Wirkung innerhalb Russlands und setzen den Kreml unter Druck, die eigene Bevölkerung zu schützen.

Indem Russland die ukrainischen Streitkräfte von der Grenze zurückdrängt – idealerweise 10 bis 15 Kilometer tief ins Land hinein – will es eine Zone schaffen, aus der die Ukraine Belgorod nicht mehr so leicht mit herkömmlichen Mitteln beschießen kann. Wowtschansk ist der erste, blutige Schritt zur Umsetzung dieses Ziels. Es ist ein brutales Signal: Für die Sicherheit einer russischen Stadt ist der Kreml bereit, eine ukrainische Stadt vollständig auszulöschen.

Teil 3: Die Überdehnung der Front

Der vielleicht wichtigste strategische Aspekt dieser Offensive ist jedoch nicht die Eroberung von Land, sondern die Bindung von Ressourcen. Die Front in der Ukraine ist über 1.000 Kilometer lang. Der Großteil der schwersten Kämpfe konzentrierte sich monatelang auf den Donbass, auf Städte wie Awdijiwka, Tschassiw Jar und die Region Saporischschja.

Die Ukraine, die ohnehin schon unter einem gravierenden Mangel an Soldaten leidet, hatte ihre besten und erfahrensten Brigaden in diesen Sektoren positioniert. Putin weiß das.

Mit der Eröffnung einer völlig neuen Front im Norden zwingt Russland die ukrainische Militärführung zu einer unmöglichen Entscheidung. Entweder sie lassen die Charkiw-Front kollabieren und riskieren die Einkesselung der Metropole, oder sie ziehen ihre wertvollen, bereits erschöpften Reserven aus dem Donbass ab, um den Norden zu stabilisieren.

Beides ist katastrophal. Ein Abzug von Truppen aus dem Donbass würde genau dort Lücken reißen, wo Russland ebenfalls massiv drückt. Die russische Strategie zielt darauf ab, die ukrainischen Linien “zu überdehnen”, bis sie irgendwo reißen. Es ist ein zynisches Spiel mit der zahlenmäßigen Überlegenheit und der begrenzten Kapazität der Ukraine.

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Charkiw selbst im Fadenkreuz

Die größte Sorge der ukrainischen Führung und der westlichen Verbündeten gilt jedoch Charkiw selbst. Ein direkter Angriff auf die Millionenstadt, ein Häuserkampf wie in Mariupol, scheint derzeit unwahrscheinlich. Dafür, so schätzen Analysten, reichen die von Russland zusammengezogenen Kräfte (geschätzt auf 30.000 bis 50.000 Mann) nicht aus.

Aber sie müssen die Stadt auch nicht einnehmen, um sie unbewohnbar zu machen.

Wenn es den russischen Truppen gelingt, sich nur wenige Dutzend Kilometer weiter vorzukämpfen, bringen sie Charkiw in die direkte Reichweite ihrer Rohrartillerie. Bisher wird die Stadt “nur” von Raketen und Drohnen terrorisiert. Ein ständiger Artilleriebeschuss würde das tägliche Leben vollständig lahmlegen und eine massive humanitäre Krise auslösen, da Millionen Menschen zur Flucht gezwungen wären. Die Bedrohung allein ist eine mächtige psychologische Waffe, die den Druck auf Kiew erhöht, möglicherweise zu ungünstigen Bedingungen zu verhandeln.

Ein Wettlauf gegen die Zeit: Das Problem der Munition

Dieser russische Vorstoß geschieht nicht im luftleeren Raum. Er fällt exakt in ein “Zeitfenster der Verwundbarkeit”, wie es Militärexperten nennen. Monatelang blockierte politische Grabenkämpfe in den USA das entscheidende 61-Milliarden-Dollar-Hilfspaket.

Während in Washington debattiert wurde, ging an der Front in der Ukraine die Munition aus. Soldaten berichten von einem Artillerie-Verhältnis von eins zu zehn – auf einen ukrainischen Schuss kamen zehn russische.

Dieses “Munitionsmangel” ist allgegenwärtig. Die Moral der Truppen, so berichtet es Steffen Schwarzkopf, sei “angespannt”. Die Soldaten sind müde, aber immer noch entschlossen, weil sie wissen, wofür sie kämpfen. Aber Entschlossenheit allein hält keine Gleitbombe auf.

Die westliche Hilfe, einschließlich der dringend benötigten Artilleriegranaten und Luftverteidigungsmunition, kommt jetzt zwar langsam ins Rollen, aber sie erreicht die Frontlinien nur schleppend. Jede Granate, die heute in einem Lager in Polen ankommt, wird erst in Tagen oder Wochen im Schützengraben bei Wowtschansk eintreffen.

Russland weiß das. Die Offensive im Norden ist ein rücksichtsloser Sprint, um Fakten zu schaffen, bevor das Pendel der westlichen Unterstützung wieder zugunsten der Ukraine ausschlagen kann. Sie nutzen dieses Zeitfenster, in dem die Ukraine am verwundbarsten ist.

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Ausblick: Ein langer Abnutzungskrieg

Die kommenden Wochen werden als einer der kritischsten Momente dieses Krieges in die Geschichte eingehen. Die Ukraine versucht verzweifelt, neue Verteidigungsstellungen aufzubauen und die Linien zu stabilisieren. Sie kämpfen um jeden Meter, aber der Druck ist enorm.

Russland hat die Initiative zurückgewonnen. Der Konflikt ist endgültig zu einem “Abnutzungskrieg” (Abnutzungskrieg) geworden, wie es in den Generalstäben heißt. Es ist ein brutaler Wettkampf der Logistik, der industriellen Kapazität und der menschlichen Ausdauer.

Für die Menschen in Charkiw und Wowtschansk ist dies keine abstrakte Analyse. Es ist die tägliche Realität von Sirenen, Einschlägen und der Angst um das eigene Leben. Die Offensive im Norden ist ein brutaler Weckruf an den Westen, dass dieser Krieg noch lange nicht vorbei ist – und dass Verzögerungen bei der Unterstützung direkt in Tod und Zerstörung an der Front umgemünzt werden. Die Verteidiger von Charkiw kämpfen nicht nur um ihre Stadt; sie kämpfen um Zeit, die ihnen gerade davonzulaufen droht.

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