Es ist ein Fall, der Deutschland seit Jahren den Atem raubt. Ein Fall, der wie eine offene Wunde im kollektiven Gedächtnis klafft. Das Verschwinden der 15-jährigen Rebecca Reusch aus Berlin im Februar 2019 ist ein Mysterium aus Schweigen, Verdächtigungen und einer quälenden Ungewissheit. Vier Jahre lang schien der Fall kalt zu sein. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, sind die Ermittler zurück. Mit Baggern, mit Spürhunden, und mit einer neuen, erschütternden Theorie. Im Zentrum: Erneut das Haus des Schwagers Florian R. und zwei neue, bizarre Spuren – ein fehlender Bademantel-Gürtel und eine sogenannte “Akustikmessung”.
Die Bilder von 2023 wirken wie ein Déjà-vu. Wieder ist die ruhige Straße in Berlin-Britz, in der Rebeccas Schwester Jessica mit ihrem Mann Florian und dem gemeinsamen Kind lebt, Schauplatz polizeilicher Aktivität. Doch diesmal geht es um mehr als nur eine erneute Durchsuchung. Die Mordkommission hat nach vier Jahren alle Fakten in einem Abschlussbericht zusammengetragen, der offenbar mehr offene Fragen als Antworten liefert.
Zwei dieser Fragen sind es, die nun zu dieser spektakulären neuen Aktion führten. Erstens: Der Gürtel eines Bademantels, der im Haus benutzt wurde, ist auf unerklärliche Weise verschwunden und bleibt es bis heute. Ein kleines Detail, das in einem Mordfall ohne Leiche eine gigantische Bedeutung haben könnte. Wozu könnte ein solcher Gürtel benutzt worden sein? Die Implikationen sind düster.
Zweitens, und das ist vielleicht der schockierendste Aspekt der neuen Ermittlungen: Die Polizei führte eine “Akustikmessung” im Haus durch. Das Ziel dieser Messung ist so präzise wie grausam. Die Ermittler wollen wissen: Wenn es in jener Nacht im Erdgeschoss, wo Rebecca auf der Couch schlief, zu einem handfesten Streit, ja, zu einem “Todeskampf” gekommen wäre – hätte man die Schreie im Obergeschoss oder außerhalb des Hauses wahrnehmen können?

Diese Frage birgt eine ungeheure Sprengkraft. Denn wenn die Messung ergibt, dass Schreie hörbar gewesen wären, würde das unweigerlich Rebeccas ältere Schwester Jessica, die in dieser Nacht oben schlief, ins Zentrum der Ermittlungen rücken. Hat sie etwas gehört? Deckt sie ihren Mann? Die neuen Ermittlungen drohen, die ohnehin fragile Familienstruktur endgültig zu zerreißen.
Um die Wucht dieser neuen Entwicklung zu verstehen, muss man zurückblicken auf jenen kalten Februartag im Jahr 2019, an dem das Leben der Familie Reusch für immer zerbrach.
Rebecca, von ihrer Familie liebevoll “Becky” genannt, war 15 Jahre alt. Ein lebenslustiges, liebevolles Mädchen, der “Sonnenschein” der Familie, wie ihre Eltern sagen. Sie liebte es, Selfies zu machen und Videos aufzunehmen, ein ganz normaler Teenager, Fan der Band BTS. Sie wuchs als jüngste von drei Töchtern in einer Handwerkerfamilie auf und übernachtete oft bei ihrer zwölf Jahre älteren Schwester Jessica und deren Mann Florian.
So auch am Sonntag, dem 17. Februar 2019. Es war der Tag vor ihrem Verschwinden. Die Schwestern machten sich einen entspannten Abend, während der Schwager, ein Koch, auf einer verspäteten Weihnachtsfeier seines Hotels war. Gegen 23 Uhr gingen die beiden Frauen schlafen – Jessica oben im Schlafzimmer, Rebecca wie so oft auf der Couch im Wohnzimmer.
Was in den nächsten Stunden in diesem Haus in Berlin-Britz geschah, ist der Kern des gesamten Kriminalfalls.
Gegen 5:45 Uhr morgens, am Montag, dem 18. Februar, kam der Schwager Florian R. von der Feier nach Hause. Er legte sich, so seine Aussage, im ersten Stock zu seiner Frau. Spätere Ermittlungen zeigten jedoch, dass er noch im Internet eingeloggt war und offenbar Pornofilme konsumierte. Er war also wach.
Gegen 7:00 Uhr verließ Rebeccas Schwester Jessica das Haus, um die gemeinsame kleine Tochter in die Kita zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt, so die Annahme, waren Rebecca und ihr Schwager allein im Haus.
Um 7:20 Uhr versuchte Rebeccas Mutter, ihre Tochter auf dem Handy anzurufen, um sie für die Schule zu wecken. Doch das Telefon war aus – die Mailbox sprang an. Ein ungutes Gefühl. Die Mutter versuchte es erneut, wieder nur die Mailbox. Daraufhin rief sie ihren Schwiegersohn Florian R. an. Laut Aussage der Mutter drückte dieser sie zunächst weg. Ein Detail, das später schwer wiegen sollte.
Wenig später meldete sich der Schwager doch. Während des Telefonats ging er, so seine Schilderung, ins Wohnzimmer. Seine Aussage: Rebecca sei nicht mehr da. Auch ihre Sachen, ihre Jacke, ihr Rucksack, seien verschwunden. Für die Familie gab es in diesem Moment noch keinen Grund zur Panik. Die logische Annahme: Rebecca war auf dem Weg zur Schule.
Doch die Stunden vergingen. Am späten Nachmittag, weit nach Schulschluss, war Rebecca immer noch nicht erreichbar. Gegen 16:30 Uhr kam der Anruf, der den Albtraum besiegelte: Die Walter-Gropius-Schule teilte mit, dass Rebecca an diesem Tag nicht zum Unterricht erschienen war.
Die Eltern alarmierten die Polizei. Doch wie so oft in solchen Fällen wurde der Vorfall zunächst nicht mit der höchsten Priorität behandelt. Jugendliche im Alter von 14 bis 16 hauen manchmal ab, so die erste Einschätzung. Die Familie wollte nicht warten und startete über soziale Netzwerke eine verzweifelte Suchaktion. Die Anteilnahme war riesig, doch von Rebecca fehlte jede Spur.
Erst am 21. Februar, drei Tage nach ihrem Verschwinden, veröffentlichte die Polizei eine offizielle Vermisstenanzeige. Die Ermittlungen konzentrierten sich zunächst auf Rebeccas Schulweg. Die Bushaltestelle Alt-Buckow, nur 700 Meter vom Haus entfernt. Zeugen wollten sie dort gesehen haben. Doch die akribische Auswertung der Kameras aus den Bussen der Linie M1 blieb ergebnislos. Rebecca war auf keiner Aufnahme zu sehen. Eine Kamera in einer Bäckerei, die direkt auf den Bürgersteig der Haltestelle gerichtet war, zeigte sie ebenfalls nicht.
Alle Zeugenaussagen, die sie gesehen haben wollten – mal mit Decke, mal ohne – lösten sich nach weiteren Vernehmungen in Luft auf. Sie “konnten relativiert werden und haben uns überhaupt nicht weitergebracht”, so ein Ermittler.
Die Erkenntnis sickerte durch: Rebecca Reusch hat das Haus ihres Schwagers an jenem Morgen höchstwahrscheinlich nie verlassen.
Mit dieser Theorie änderte sich alles. Der Fokus richtete sich mit voller Wucht auf den einzigen anderen Erwachsenen, der nachweislich mit ihr im Haus war: Florian R.
Zehn Tage nach Rebeccas Verschwinden klickten die Handschellen. Der Schwager wurde festgenommen. Die Theorie der Polizei war klar und brutal: Rebecca hat das Haus nicht lebend verlassen. Der Schwager hat die 15-Jährige und all ihre Sachen – inklusive der auffälligen lila Decke aus dem Wohnzimmer – später weggeschafft.
Doch die Durchsuchung des Hauses durch Kriminaltechniker brachte nicht den erhofften Durchbruch. “Wir haben keine konkreten Hinweise auf eine Gewalttat auf eine Straftat dort im Hause gewinnen können”, musste die Staatsanwaltschaft einräumen. Genau dieser Mangel an forensischen Beweisen war es, der dazu führte, dass der dringende Tatverdacht nicht aufrechterhalten werden konnte. Florian R. kam wieder frei.
Doch die Ermittler ließen nicht locker. Der Fall war voller Indizien, die alle in eine Richtung zeigten. Das auffälligste Puzzleteil: der himbeerrote Renault Twingo des Schwagers. Dieses Auto, so glauben die Ermittler bis heute, ist der Schlüssel zur Lösung des Rätsels.

Das sogenannte KESY, ein automatisches Kennzeichenerfassungssystem auf den Autobahnen, lieferte die brisantesten Daten des gesamten Falles.
Fahrt Nummer eins: Am Tag von Rebeccas Verschwinden, dem 18. Februar, wurde der Twingo um 10:47 Uhr auf der A12 an der Abfahrt Friedersdorf erfasst. Eine Fahrt, die Fragen aufwirft. Warum fährt ein Mann, der erst um 5:45 Uhr von einer Firmenfeier nach Hause kam, wenige Stunden später nach Brandenburg?
Fahrt Nummer zwei: Noch verdächtiger. Nur einen Tag später, am 19. Februar, wurde derselbe Twingo um 22:00 Uhr (22 Uhr) erneut vom KESY-System auf der A12 Richtung Polen erfasst. Danach verschwand der Wagen von den Kameras; er muss vor der Grenze abgefahren sein.
Zwei Fahrten in dasselbe Gebiet innerhalb von 36 Stunden, unmittelbar nach dem Verschwinden eines Teenagers aus seinem Haus. Für die Ermittler war die Sache klar: Florian R. hat Rebeccas Leichnam dorthin verbracht. Die Gegend um Storkow und zwischen Berlin und Frankfurt (Oder) wurde zum Epizentrum der Suche, auch weil Verwandte des Schwagers in dieser Region leben.
Es folgten wochenlange, verzweifelte Suchaktionen. Hundertschaften durchkämmten riesige Waldgebiete, Seen und Sümpfe in Brandenburg. Die Polizei war sich zu diesem Zeitpunkt sicher: “Wir wissen, was passiert ist, brauchen jedoch Beweise.” Sie veröffentlichten Fotos des Twingos und des Schwagers. Zeugen meldeten sich, die einen Mann mit Basecap nahe dem Ort Thomasdorf an der A12 gesehen haben wollten, der sich in den Wald zurückzog, als er bemerkt wurde. Doch alle Ermittlungen blieben erfolglos. Die Wälder Brandenburgs gaben ihr Geheimnis nicht preis.
Florian R. wurde erneut festgenommen und erneut verhört. Er blieb bei seiner Aussage: Er habe mit dem Verschwinden nichts zu tun. Die Fahrten nach Brandenburg? Angebliche Drogengeschäfte. Ein Alibi, das für die Ermittler wie eine durchsichtige Schutzbehauptung klang. Doch ohne Leiche, ohne DNA, ohne Tatortspuren reichte die Indizienkette nicht aus. Am 22. März 2019 wurde Florian R. erneut aus der Untersuchungshaft entlassen.
Seitdem herrscht eine gespenstische Stille. Rebeccas Kleidung, ihr weißer BTS-Kapuzenpullover, ihre Vans-Schuhe, ihr Rucksack, ihre Kamera, ihr iPhone und die lila Decke – all diese zum Teil sehr auffälligen Gegenstände sind wie vom Erdboden verschluckt.

Bis jetzt. Vier Jahre später kehrt die Mordkommission zurück. Sie haben nicht aufgegeben. Sie suchen nach dem fehlenden Bademantel-Gürtel. Sie wollen wissen, was man in diesem Haus hören konnte und was nicht. Sie versuchen, die letzten Lücken in einer Indizienkette zu schließen, die für eine Verurteilung noch nicht reicht. Der Fall Rebecca Reusch ist ein “perfect crime” ohne Leiche – noch. Doch die Ermittler, die noch neun Dienstjahre vor sich haben, wollen diesen Fall lösen. Und die neuen Maßnahmen zeigen: Sie glauben, sie waren von Anfang an auf der richtigen Spur.