Die jüngste Debatte im Deutschen Bundestag hat sich nicht nur als eine hitzige Auseinandersetzung in Sachfragen entpuppt, sondern als eine beispiellose, hochemotionale Schlacht um die Deutungshoheit von Extremismus und Demokratieverständnis. Das Plenum, oft Schauplatz scharfer, aber formalisierter Rhetorik, verwandelte sich in diesen Minuten in eine Arena, in der die emotionalen Fetzen flogen. Im Zentrum stand ein explosiver Schlagabtausch zwischen einem Abgeordneten der Linken und einem Vertreter der AfD, der mit einem beispiellosen Gegenangriff endete. Die Kernfrage, die nach diesem Eklat im Raum steht: Wie weit darf die politische Auseinandersetzung gehen, und wer definiert, was in den heiligen Hallen der Demokratie als gefährlicher Extremismus gilt?

Die Anklage: „Der politische Arm des Faschismus“
Die Debatte begann mit einem zutiefst persönlichen und emotional aufgeladenen Redebeitrag des Linken-Abgeordneten Jiyan Kotschack. Kotschack, der selbst Migrationshintergrund hat, nutzte seine Plattform, um der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau vom 19. Februar 2020 zu gedenken. Seine Worte waren keine trockene Analyse, sondern eine Anklage: „Hanau ist kein Einzelfall. Hanau ist kein Zufall. Hanau ist das Ergebnis von rechtem Hass, von faschistischer Ideologie und vom Wegsehen der Politik“ . Er sprach die neun ermordeten Menschen beim Namen an – Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kirp, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Fatih Saraçoğlu – und ließ die Tragödie in all ihrer Grausamkeit wieder aufleben. Es war ein bewegender Moment der Erinnerung, der allerdings direkt in eine politische Generalabrechnung mündete.
Die emotionale Wucht seiner Rede speiste sich aus weiteren, persönlichen Erfahrungen. Er ehrte Mütter wie Serpil Unvar, die Mutter von Ferhat Unvar, und Melek Bektaş, deren Sohn Burak 2012 in Neukölln mutmaßlich von Neonazis ermordet wurde. Kotschack beschrieb ihre Tränen als „das Blut der Seelen von Hunderten, die durch den deutschen Faschismus nach 1945 ermordet wurden“. Besonders erschütternd war sein Bericht über einen persönlichen Brandanschlag im Jahr 2018, den er und seine Familie nur knapp überlebten, während die Polizei nach seinen Angaben über die Gefahr durch Neonazis Bescheid wusste, ihn aber nicht gewarnt hatte. „Fünf Minuten später und wir hätten es nicht lebend aus dem Haus geschafft“.
Diese persönlichen Erlebnisse dienten als Fundament für seine politische Schlussfolgerung. Er bezog sich auf das Schicksal des CDU-Politikers Walter Lübcke, dessen Mörder Verbindungen zur AfD gehabt haben soll, und kulminierte in der direkten und wiederholten Attacke: „Sie von der AfD sind der politische Arm des Faschismus auf den Straßen“. Mit dieser Formulierung stellte Kotschack nicht nur eine politische Gegnerschaft fest, sondern unterstellte der gesamten Partei eine direkte Mitschuld an der Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und der daraus resultierenden Gewalt. Er forderte dazu auf, dem „deutschen Faschismus“ entschlossen entgegenzutreten und positionierte den Antifaschismus als „Grundfeiler unserer Demokratie“. Schließlich zitierte er den berühmten Satz von Pastor Martin Niemöller (im Video fälschlicherweise als “Far Möller” bezeichnet) über das Schweigen beim Wegsehen, um seine demokratischen Mitstreiter aus der CDU/CSU vor einer schrittweisen Aushöhlung der Demokratie zu warnen. Mit dem Schlachtruf „Alerte Alerte Antifaschist“beendete er seinen Beitrag, der eine eindeutige Aufforderung zum zivilgesellschaftlichen Widerstand darstellte.
Die Retourkutsche: Der Schockmoment aus der AfD-Fraktion
Die Wirkung von Kotschacks Rede war immens. Der Versuch der AfD, die Wucht dieser Anklage mit einer sofortigen Entgegnung zu neutralisieren, war absehbar. Was folgte, war jedoch kein bloßes Dementi, sondern ein in seiner Aggressivität und Taktik beispielloser politischer Konter.
Der AfD-Abgeordnete Maximilian Kneller meldete sich zu einer Kurzintervention zu Wort und nutzte diese Plattform nicht, um die Vorwürfe des Rechtsextremismus zu entkräften, sondern um den Angreifer selbst zur Zielscheibe zu machen. Er bezog sich auf angebliche Aktivitäten Kotschacks in den sozialen Medien und zitierte öffentlich im Parlament Passagen aus einem Rap-Song, die Kotschack angeblich in einem TikTok-Video verwendet oder selbst gerappt hatte.
Kneller begann mit dem Verweis auf einen TikTok-Clip, den Kotschack „wenige Meter von hier entfernt“ gedreht habe. Die zitierten Zeilen trafen das Plenum mit voller Wucht und ließen die hitzige Atmosphäre endgültig eskalieren:
- „Aus einer Gorbatschow wird eine Molotov“
- „Aus dem Bullenauto ein Haufen Schrott“
- „Bullenschweine raus aus unserer Gegend“
- „Hier herrscht Anarchie“
- „Hauen im Rechten aufs Maul auf die linke Tour“
- „Molotovs als Antwort auf Tränengase“
Diese Zitate stellten eine direkte Glorifizierung von Gewalt gegen die Polizei sowie eine politische Gewaltandrohung dar und enthielten darüber hinaus kommunistische Referenzen („Da Flex kommt wie Mao und Stalin“).
Der strategische Schachzug der AfD war klar: Die Angriffe auf mutmaßlichen Rechtsextremismus sollten mit einem Verweis auf mutmaßlichen Linksextremismus, der sich durch die Glorifizierung von Gewalt gegen Staatsorgane manifestiert, gekontert werden. Kneller fragte den Linken-Abgeordneten direkt: „Finden Sie es angemessen als deutscher Volksvertreter hier – steht über dem Haus: dem Deutschen Volke – so aufzutreten, solche widerliche Polizeigewalt zu befürworten und sich dann hier hinzustellen und so zu tun, als wären wir das Problem“? Die ultimative Forderung, die den Höhepunkt der Eskalation markierte, folgte postwendend: „Ist das angemessen, oder sollten Sie nicht Ihr Mandat zurückgeben?“ Die AfD nutzte damit die eigene Plattform, um die moralische Integrität und demokratische Eignung des politischen Gegners fundamental infrage zu stellen. Die Lautstärke und der Applaus aus der eigenen Fraktion ließen keinen Zweifel an der Genugtuung über diesen medial wirksamen Coup.

Die chaotische Abwehr und die Eskalation
Die Reaktion des Linken-Abgeordneten auf diesen frontalen Angriff war geprägt von wütender Abwehr und dem Versuch, die Deutungshoheit über die verwendeten Zitate zurückzugewinnen. Anstatt sich von den zitierten Rap-Passagen zu distanzieren, oder deren Verwendung aufzuklären, versuchte er, die Verantwortung für die Aussagen vom AfD-Kollegen auf den Rapper abzulenken.
„Sie zitieren hier einen Rapper, aber sie zitieren nicht mich. Sie zitieren nicht mich“, entgegnete Kotschack in der folgenden Replik in hitziger Atmosphäre. Er forderte Kneller auf, sich seine TikTok-Seite anzusehen und zu zitieren, „was ich da gerappt habe“. Im selben Atemzug wiederholte er jedoch seinen umstrittenen Slogan: „Und zwar ging es da um Rassismus, um Antirassismus und ich habe gesagt: Alerte Alerte Antifaschist – und das, was ich gesagt habe, dazu stehe ich“ .
Diese Antwort, die das Zitat nicht direkt dementierte, sondern lediglich die Verantwortung für die urheberrechtliche Quelle delegierte, wirkte im Parlament wenig überzeugend. Die Aussage „Ich bin verantwortlich für das, was ich gesagt habe, nicht für das, was Sie verstehen und reininterpretieren“ mag rhetorisch geschickt sein, adressierte aber nicht die zentrale moralische Frage: Ist es für einen gewählten Volksvertreter akzeptabel, in sozialen Medien Inhalte zu verbreiten oder zu rappen, die unverhohlen zu Gewalt gegen die Staatsgewalt aufrufen?
Die gesamte Szene im Bundestag war ein Lehrstück in moderner politischer Kommunikation und Konfrontation. Die AfD, selbst oft im Visier des Verfassungsschutzes wegen extremistischer Tendenzen, nutzte die Bühne des Parlaments, um eine Ablenkung von den eigenen Problemen zu schaffen und dem politischen Gegner das eigene moralische Versagen vorzuwerfen. Das von der AfD verwendete Medium war dabei die moderne Waffe der Sozialen Medien: TikTok, die Plattform der jungen Generation, wird zum Beweisstück im ältesten politischen Kampf – dem Kampf um die Definition der Feinde der Demokratie.

Die Implikationen für die politische Kultur
Der dramatische Schlagabtausch im Bundestag wirft ein Schlaglicht auf die Zuspitzung der politischen Kultur in Deutschland. Das Parlament, das als Ort des sachlichen Austauschs dienen soll, wird zunehmend zur Bühne für emotionale Spektakel und medienwirksame Inszenierungen.
Die Rede des Linken-Abgeordneten Kotschack, die auf persönlichen Schmerz, historische Verantwortung und die Verpflichtung zum Antifaschismus fußte, steht im diametralen Gegensatz zur Retourkutsche der AfD, die mit der Zitation mutmaßlich linksextremer Gewaltfantasien auf TikTok konterte. Dieses Duell der Narrative zeigt die tiefen Gräben innerhalb der Bundesrepublik.
Auf der einen Seite steht die politische Linke, die den Kampf gegen Rechtsextremismus zur obersten Priorität erklärt und dabei nicht davor zurückschreckt, die AfD mit dem Faschismus der deutschen Geschichte gleichzusetzen. Diese Haltung, so emotional nachvollziehbar sie im Angesicht der Opfer von Hanau und Lübcke sein mag, birgt das Risiko einer in der demokratischen Auseinandung notwendigen, sachlichen Debatte.
Auf der anderen Seite steht die AfD, die geschickt versucht, die Anschuldigungen des Rechtsextremismus zu deflektieren, indem sie den Fokus auf den Linksextremismus lenkt. Ihr Vorgehen, einen Abgeordneten mit dessen Social-Media-Aktivitäten anzugreifen, ist ein Zeichen dafür, dass die politische Auseinandersetzung längst nicht mehr nur im Plenarsaal, sondern in der viel breiteren und oft schwer zu kontrollierenden Welt der sozialen Medien stattfindet.
Unabhängig von der politischen Zuordnung bleibt die Frage der Angemessenheit. Gewaltaufrufe – egal aus welchem politischen Spektrum – stellen eine rote Linie dar. Die politische Verantwortung eines Abgeordneten, der über dem Gesetz und der Verfassung verpflichtet ist, duldet keine Ambivalenz gegenüber der Glorifizierung von Gewalt gegen die Polizei oder andere Staatsorgane. Die Tatsache, dass dieser Vorwurf in den Raum gestellt wurde und die Antwort darauf wenig Klarheit schaffte, hat der politischen Debatte einen immensen Schaden zugefügt.
Die Szene im Bundestag war mehr als nur eine Debatte; sie war ein offenes Zeugnis einer tief zerrissenen Gesellschaft, deren politische Vertreter sich mit beispielloser Aggressivität gegenüberstehen. Das Parlament selbst wurde so zum Spiegel eines Landes, in dem die Gräben zwischen den politischen Lagern tiefer sind, als die Gemeinsamkeiten, und in dem jede Anschuldigung nur dazu dient, eine noch schärfere Gegenanschuldigung zu provozieren. Die Forderung nach einer Rückgabe des Mandats, ausgesprochen inmitten des Tumults, mag vorerst folgenlos bleiben, doch die emotionalen und rhetorischen Wunden dieses Schlagabtauschs werden die politische Kultur des Bundestages noch lange Zeit prägen. Der Ruf „Alerte Alerte Antifaschist“ und das Echo der Rap-Zitate im Parlament zeigen: Deutschland ringt nicht nur um Sachpolitik, sondern fundamental um seine Seele.