Es beginnt schleichend. Man steht im Türrahmen und hat den Bruchteil einer Sekunde lang vergessen, warum man den Raum überhaupt betreten hat. Man sucht die Schlüssel, die man gerade noch in der Hand hielt. Man trifft einen Bekannten, dessen Name einem wie Sand durch die Finger rinnt – präsent, aber nicht greifbar. Für Millionen von Menschen sind dies die ersten, beunruhigenden Vorboten einer unausweichlich scheinenden Realität: dem Alter. “Das ist eben so, wenn man älter wird”, sagen wir achselzuckend.
Doch was wäre, wenn diese Annahme ein fataler Irrtum ist? Was wäre, wenn nicht die Zahl auf dem Kalender, sondern ein Netz aus stillen, alltäglichen Gewohnheiten unser Gehirn Tag für Tag schwächt?
Dr. Tenório, ein Experte auf dem Gebiet der Gehirngesundheit, bricht mit diesem Mythos. Er warnt eindringlich: Es sind die harmlosen Routinen, die wir für selbstverständlich halten, die leise, aber unerbittlich unser Gedächtnis, unsere Konzentration und unsere geistige Klarheit sabotieren. Die gute Nachricht: Dieser Prozess ist nicht nur aufzuhalten, sondern in vielen Fällen umkehrbar. Doch dafür müssen wir die unsichtbaren Feinde in unserem Alltag erkennen.
Der tödliche Mangel: Warum Schlaf die wichtigste Therapie ist
Die vielleicht gefährlichste und am meisten unterschätzte Gewohnheit ist chronischer Schlafmangel. In unserer 24/7-Gesellschaft wird Schlaf oft als Luxus oder gar als Zeitverschwendung angesehen. Ein fataler Fehler. Wer regelmäßig weniger als sieben Stunden pro Nacht schläft, verweigert seinem Gehirn die lebenswichtige nächtliche Reinigung.

Im Tiefschlaf, erklärt Dr. Tenório, wird das sogenannte “glymphatische System” aktiviert. Man kann es sich als die Müllabfuhr des Gehirns vorstellen. Dieses System spült Stoffwechselabfälle aus den Nervenzellen. Der gefährlichste dieser Abfälle ist das Protein Beta-Amyloid. Dieses Protein wird von Forschern direkt mit der Entstehung von Gedächtnisstörungen und Demenzerkrankungen wie Alzheimer in Verbindung gebracht. Bei Schlafmangel wird dieses Protein nicht abtransportiert, es lagert sich an und stört die sensible Kommunikation zwischen den Neuronen. Gleichzeitig führt der Mangel zu chronischen Entzündungen im Hippocampus – dem Teil des Gehirns, der als unser Gedächtniszentrum fungiert. Die Folgen spüren wir schnell: Wir werden vergesslich, unkonzentriert und emotional unausgeglichen. Schlaf ist keine Pause, er ist die aktivste und wichtigste Therapie für unser Gehirn.
Der Autopilot-Modus: Wenn Routine das Gehirn einfriert
Unser Gehirn ist eine Wundermaschine des Lernens. Es liebt Neues, Überraschungen und Herausforderungen. Doch was tun die meisten von uns? Wir leben auf Autopilot. Wir fahren jeden Tag denselben Weg zur Arbeit, essen dieselben Gerichte, folgen denselben Denkmustern. Diese Monotonie ist pures Gift für die geistige Flexibilität.
Wenn wir dem Gehirn keine neuen Reize bieten, verliert es an Neuroplastizität – der fundamentalen Fähigkeit, neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen zu knüpfen. Es ist einer der Hauptgründe, warum viele Menschen bereits in mittleren Jahren geistig “einfrieren”. Das Gegenmittel ist einfach: Brechen Sie die Routine. “Gehen Sie einen anderen Weg zur Arbeit, lernen Sie ein neues Wort, spielen Sie ein Instrument, probieren Sie ein neues Rezept aus”, rät Dr. Tenório. Solche kleinen, alltäglichen Herausforderungen zwingen das Gehirn, neue Bahnen zu bauen. Sie fördern die Produktion eines Proteins namens BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor). BDNF ist eine Art Dünger für die Nervenzellen. Je mehr wir lernen und erleben, desto jünger und anpassungsfähiger bleibt unser Gehirn.
Der süße Feind: Zucker und der “Diabetes Typ 3”
Natürlich braucht das Gehirn Energie, und zwar in Form von Glukose. Aber es braucht sie in Maßen. Unsere moderne Ernährung, voll von Zucker, Weißmehl und stark verarbeiteten Lebensmitteln, überflutet das System. Der Insulinspiegel steigt permanent an. Mit der Zeit werden die Zellen unempfindlicher gegenüber dem Insulin – es entsteht eine Insulinresistenz.
Was viele nicht wissen: Diese Resistenz betrifft auch das Gehirn. Forscher, so Dr. Tenório, nennen diese Störung mittlerweile provokativ “Diabetes Typ 3”, um zu verdeutlichen, wie stark Zucker die Gehirnfunktion beeinträchtigt. Auch wenn dies kein offizieller medizinischer Begriff ist, ist die Botschaft klar: Zu viel Zucker bedeutet weniger Energie für die Neuronen, mehr Entzündungen und ein messbar schwächeres Gedächtnis. Die gute Nachricht: Schon nach wenigen Tagen Zuckerreduktion berichten viele von einer deutlich verbesserten Konzentration.
Die Sitz-Falle: Bewegungsmangel und die Sauerstoff-Schuld
Wir sind zu einer Gesellschaft von Sitzenden geworden. Wir sitzen im Büro, im Auto, auf dem Sofa. Dieser Bewegungsmangel hat direkte Auswirkungen auf unser Denkorgan. Stundenlanges Sitzen verringert die Durchblutung im gesamten Körper und damit auch die lebenswichtige Sauerstoffzufuhr zum Gehirn. Ohne ausreichend Sauerstoff und Nährstoffe können unsere Neuronen nicht effizient arbeiten.
Der Ausweg erfordert keinen Marathon. “Schon ein täglicher Spaziergang von 30 Minuten steigert die Durchblutung, aktiviert Wachstumsfaktoren und regt die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus an”, betont Dr. Tenório. Jede Form der Bewegung zählt: Treppen statt Aufzug, Tanzen in der Küche, Gartenarbeit. Jede Bewegung signalisiert dem Gehirn: “Ich lebe!” Und das Gehirn antwortet mit mehr Energie, besserer Stimmung und klarerem Denken.

Stress & Co.: Die modernen Saboteure
Selbst wer gut schläft und sich bewegt, kann sein Gehirn durch zwei weitere, moderne Plagen schädigen: chronischen Stress und digitale Überreizung.
Wenn wir ständig unter Druck stehen – sei es durch Arbeit, private Sorgen oder die unaufhörliche Flut von Nachrichten – produziert der Körper das Hormon Cortisol. In kleinen Dosen ist es ein Überlebenshelfer. Bleibt es aber dauerhaft erhöht, wird es zum Gift. Cortisol schädigt die empfindlichen Nervenzellen direkt im Hippocampus. Das ist der Grund, warum wir bei akuter Anspannung oder Angst oft selbst einfachste Dinge vergessen.
Dazu kommt die digitale Überreizung. Die Flut von Bildschirmen, Nachrichten und Benachrichtigungen. Wer alle paar Minuten sein Handy überprüft oder gleichzeitig fernsieht und Nachrichten schreibt, trainiert sein Gehirn auf pure Ablenkung. Man verliert die Fähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren. Dies führt, so Dr. Tenório, zu einer “fragmentierten Erinnerung”. Wir vergessen Dinge nicht, weil unser Gehirn kaputt ist, sondern weil wir die Informationen durch die ständige Ablenkung nie richtig abgespeichert haben. Eine tägliche Offline-Stunde, ohne Handy oder TV, kann hier Wunder wirken.
Die vergessenen Helfer: Wasser, Soziales und Nährstoffe
Oft sind es die banalsten Dinge, die den größten Effekt haben. Dehydration ist ein klassisches Beispiel. Das Gehirn besteht zu über 70% aus Wasser. Bereits ein Flüssigkeitsverlust von 2% mindert die Konzentration und den Sauerstofftransport massiv. Regelmäßiges Trinken, bevor der Durst kommt, ist essenziell.
Ähnliches gilt für soziale Isolation. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ein Gespräch, gemeinsames Lachen, Zuhören – all das ist pures Gehirntraining. Es aktiviert Sprach-, Empathie-, Planungs- und Erinnerungszentren. Wer sich zurückzieht, lässt diese neuronalen Netzwerke verkümmern.
Auch die Ernährung spielt eine Schlüsselrolle. Das Überspringen des Frühstücks kann dem Gehirn die Energie rauben, die es braucht, um wichtige Neurotransmitter wie Acetylkolin zu bilden – eine Substanz, die direkt mit der Gedächtnisbildung verknüpft ist. Ein ausgewogenes Frühstück mit Eiweiß (Eier), gesunden Fetten (Avocado, Nüsse) und Ballaststoffen (Haferflocken) legt den Grundstein für einen klaren Kopf.
Und schließlich: Alkohol. Selbst kleine, aber regelmäßige Mengen beeinträchtigen die Kommunikation zwischen den Neuronen und reduzieren nachweislich das Volumen des Hippocampus.

Die Revolution im Kopf: Es ist nie zu spät
Die Liste der Gefahren ist lang, doch die Botschaft von Dr. Tenório ist eine der Hoffnung. Vielleicht haben Sie sich in einigen dieser Gewohnheiten wiedererkannt. Das ist der erste, wichtigste Schritt. Die erstaunliche Fähigkeit unseres Gehirns zur Regeneration, die Neuroplastizität, bedeutet, dass es nie zu spät ist.
Das Gehirn kann sich erholen, selbst nach Jahren schlechter Gewohnheiten. Es kann neue Verbindungen schaffen. Jedes Mal, wenn Sie etwas Neues lernen, eine Routine brechen, ein echtes Gespräch führen oder das Handy einfach mal weglegen, investieren Sie in Ihre geistige Zukunft.
Fangen Sie heute an. Nicht mit allem auf einmal, sondern mit einer bewussten Entscheidung. Schlafen Sie eine Stunde länger. Gehen Sie 20 Minuten spazieren. Reduzieren Sie den Zucker in Ihrem Kaffee. Legen Sie das Handy eine Stunde vor dem Schlafengehen weg.
Schon nach einer Woche, so die Prognose, werden Sie spüren, wie der Nebel sich lichtet. Wie der Kopf klarer wird, die Konzentration zurückkehrt und die Erinnerungen wieder schärfer werden.
Denn, so das kraftvolle Fazit von Dr. Tenório: “Das Gehirn altert nicht mit den Jahren. Es altert mit den Gewohnheiten.” Und diese Gewohnheiten liegen allein in Ihrer Hand.