Es sind Momente in der politischen Landschaft, die aufhorchen lassen, Momente, in denen die üblichen Grabenkämpfe verblassen und eine fundamentale Kritik laut wird, die selbst erfahrene Beobachter erschüttert. Wenn ein Mann wie Stefan Aust, der ehemalige Chefredakteur des “Spiegel” und eine Ikone des deutschen Journalismus, zu einer derart vernichtenden Analyse ansetzt, dann weiß man, dass im Staate Deutschland etwas gewaltig schiefläuft. Austs jüngste Abrechnung mit Bundeskanzler Friedrich Merz ist nichts Geringeres als die Beschreibung eines politischen Erdbebens. Er nennt es unverblümt: den “verfassungsmoralischen Sündenfall schlechthin”.
Im Zentrum dieser harschen Kritik steht ein Kanzler, der angetreten war, das Ruder herumzureißen, der Klarheit und eine Rückkehr zur Vernunft versprach, und der nun, kaum im Amt, genau das Gegenteil zu tun scheint. Aust wirft Merz vor, seine eigenen Wahlversprechen mit einer Geschwindigkeit zu verraten, die ihresgleichen sucht. Statt das Land zu führen, so die Anklage, kaufe sich Merz lieber den Applaus der Grünen und finanziere deren “Träumereien” – bezahlt von den Bürgern, die auf eine Wende gehofft hatten.

Die Regierung, so das vernichtende Bild, taumle “wie eine Hippiekommune im Nebel herum”. Eine Metapher, die die Orientierungslosigkeit und das Fehlen einer klaren Führungslinie im Kanzleramt drastisch beschreibt. Diese Unentschlossenheit, dieses “mal so, mal so”, ziehe sich wie ein “rot-grüner Gummifaden” durch alle zentralen Politikbereiche.
Der Kern des Anstoßes, der “Sündenfall”, den Aust Merz vorwirft, ist ein juristischer und moralischer Tabubruch. Aust prangert an, dass der Kanzler unmittelbar nach der Wahl, bei der die bisherige Politik fundamental abgewählt worden sei, das “quasi noch im Saal befindliche alte Parlament” genutzt habe, um “mal eben die Verfassung zu ändern”. Der Zweck: die Aufnahme “gigantischer Schuldenberge”. Auch wenn dies verfassungsrechtlich gerade noch möglich gewesen sein mag, sei es “verfassungsmoralisch der Sündenfall schlechthin”. Ein Sündenfall, von dem sich Merz, so Austs Prognose, politisch nie wieder erholen werde.
Das Besondere an diesem Verrat sei, dass Merz selbst vor der Wahl massiv gegen eben jene Lockerung der Schuldenbremse gewettert hatte. Nun nutze er diese “Megaschulden”, um, wie Aust es provokant formuliert, die Grünen zu “beschenken” oder gar zu “schmieren”. Eine Rechnung, die die Grünen ihm politisch niemals zurückzahlen würden.
Doch die Schuldenpolitik ist nur ein Symptom einer tieferliegenden Problematik. Auch in der Migrationspolitik, einem der Kernthemen, das maßgeblich zum Aufstieg der AfD beigetragen habe, attestiert Aust dem Kanzler völliges Versagen. Anstatt selbst klare Kante zu zeigen, überlasse er es seinem Innenminister Dobrindt, sich “durch den Dschungel der widersprüchlichen deutschen und europäischen Gesetze zu schlagen”. Merz’ eigene Beiträge beschränkten sich auf vage Anspielungen, die gerade noch als Kritik am “Stadtbild” durchgehen könnten.
Diese wahrgenommene Unaufrichtigkeit, dieser Verrat an den eigenen Positionen, sei es, was die Bürger als “nicht ganz so blöde” erkennen und sie in die Arme der Alternative für Deutschland (AfD) treibe. Es sei, so die Analyse, die “absolut logische Konsequenz” für einen normaldenkenden Bürger, der sich das Schauspiel in Berlin nicht länger ansehen könne.
Ein weiteres Schlachtfeld ist die Energiepolitik. Die Union, so erinnert Aust, hatte eine “komplette Rückabwicklung des Heizungsgesetzes” versprochen. Was ist daraus geworden? Nichts. Das Heizungsgesetz sei nur ein kleiner Teil des Problems. In der gesamten Energiefrage setze Merz im Wesentlichen die Politik seiner Vorgänger fort. Mit einer Wirtschaftsministerin, die “tatsächlich Ahnung von der Materie” habe, setze er das fort, was der “Märchenonkel” Habeck von “Tante Merkel” übernommen habe.
Selbst vor dem umstrittenen europäischen Green Deal und dem damit verbundenen Verbrennerverbot drücke sich der Kanzler, obwohl er wissen müsse, dass dies dem “Verbot der deutschen Automobilindustrie gleich kommt”. Die Kritik trifft nicht nur Merz, sondern auch seine Vorgänger. Die katastrophale Energiepolitik und der “industrielle Selbstmord” der Autoindustrie seien auch das Ergebnis davon, dass man “Kinderbuchautoren ins Wirtschaftsministerium steckt”. Stromautos, so die zynische Pointe, könnten die Chinesen ohnehin besser – vor allem, weil es dort noch bezahlbaren Strom gebe.
Aust rechnet in diesem Zuge auch gleich mit der finanziellen Absurdität der E-Mobilität ab. Er wirft die Frage auf, wer eigentlich den Straßenbau bezahle, wenn das Verbrennerverbot die Einnahmen aus der Spritsteuer – rund 30 Milliarden Euro jährlich – eliminiere. Er male sich bereits vergnügt aus, wie der Verkauf von E-Autos einbreche, wenn man den Strom genauso hoch besteuere wie heute Benzin und Diesel. “Dann kostet 100 km mit dem Stromauto ungefähr doppelt so viel”.
Angesichts dieses politischen und ökonomischen Chaos sei es kein Wunder, dass die Menschen “die Schnauze voll haben” und jene, die es sich leisten können, dem Land den Rücken kehren. Diese Entwicklung spiele nur den Grünen und ihrem “absoluten Klimawahn” in die Hände, obwohl Merz selbst im Bundestag zugegeben habe, dass Deutschland das Klima nicht im Alleingang retten könne.
Warum also handelt der Kanzler nicht? Warum setzt er seine Wahlversprechen nicht um? Aust identifiziert den Koalitionspartner SPD als ständiges Hindernis. Merz’ einstiges Markenzeichen, die Klarheit, sei im Koalitionsalltag verloren gegangen.
Als konkretes Beispiel für die Unentschlossenheit nennt Aust die Debatte um die Wehrpflicht und die Migration. Statt klarer Ansagen kämen nur vage Diskussionen. Aust skizziert eine provokante, aber simple Lösung: die sofortige Wiedereinführung der ausgesetzten Wehrpflicht und damit auch des Wehrersatzdienstes. Man könne dann, so Austs Gedankenspiel, “alle jungen Männer, die im wehrpflichtigen Alter sind, aus welchem Land die auch immer kommen, […] gefälligst zum Wehrersatzdienst” verpflichten. “Was meinen Sie”, fragt Aust rhetorisch, “wie schnell die Zahl der Migranten, die nichts zu tun haben, wieder zurückgehen würde, wenn man sie verpflichten würde, was zu tun?”
Es sind solche klaren, wenn auch kontroversen Ideen, die die Menschen von Merz erwartet hätten. Stattdessen, so Austs Fazit, habe Deutschland so viele große Probleme, dass der Bundeskanzler sich “wirklich mal dringend anstrengen müsste, tatsächlich die Probleme anzugehen, statt irgendwie Nebensächlichkeiten” zu verhandeln.

Stefan Austs Abrechnung ist ein Dokument des tiefen Frusts über einen Kanzler, der als Hoffnungsträger antrat und nun als Verräter an den eigenen Prinzipien gesehen wird. Es ist die Anklage gegen eine Politik, die eine “Magnetwirkung” für die Falschen erzeugt: Kapital und Leistungsträger verlassen das Land, während jene ohne Geld angezogen werden. Eine Entwicklung, die, da sind sich viele einig, so nicht weitergehen kann.