Er ist ein Phänomen, ein Symbol für eine ganze Generation. Wenn der Name Matthias Reim fällt, denkt Deutschland an einen Song, eine Hymne, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: “Verdammt, ich lieb dich”. Es war der Soundtrack der Wiedervereinigung, ein Schrei aus 16 Wochen an der Chartspitze. Matthias Reim wurde über Nacht zum Superstar, ein blonder Rebell mit Lederjacke und E-Gitarre, der dem deutschen Schlager eine neue, raue Energie einhauchte.
Doch hinter der glitzernden Fassade des “Matthias Reim-Phänomens”, hinter den goldenen Schallplatten und den ausverkauften Hallen, verbarg sich ein Drama von shakespeareschem Ausmaß. Eine Geschichte von blindem Vertrauen, katastrophalem Management und einem finanziellen Absturz, der so brutal war, dass er fast alles zerstört hätte. Während die Fans seine Lieder sangen, stand der Mann, der sie geschrieben hatte, vor dem Ruin: über 13 Millionen Euro Schulden.
Jetzt, nach all den Jahren, wird das ganze Ausmaß dieses Zusammenbruchs sichtbar. Es ist die ungeschminkte Beichte eines Mannes, der alles hatte, alles verlor und sich auf eine Weise zurückkämpfen musste, die an ein Wunder grenzt.

Die Geschichte von Matthias Reim beginnt nicht im Rampenlicht, sondern in der hessischen Provinz. Geboren 1957 in Korbach, wächst er als Sohn eines Gymnasialdirektors in einem gebildeten Haushalt auf. Er studiert Germanistik und Anglistik in Göttingen, doch seine wahre Leidenschaft ist die Musik. Das Studium zieht sich über 18 Semester – eine für die damalige Zeit ungewöhnlich lange Dauer –, weil Reim seine Nächte in Studentenkneipen, kleinen Bands und mit dem Schreiben von Demos verbringt. Er entscheidet sich gegen die akademische Laufbahn und für die Kunst, ein Sprung ins Ungewisse.
In den 1980er Jahren ist Reim ein fleißiger, aber unbekannter Arbeiter hinter den Kulissen. Er wird als Songwriter und Produzent für etablierte Schlagergrößen wie Bernhard Brink und Roberto Blanco tätig. Er experimentiert mit verschiedenen Bands und Projekten, von “Fallen Dice” bis zum Synthpop-Projekt “Fairfax”. Doch der persönliche Durchbruch bleibt aus. Er gibt später zu, dass er sich in dieser Zeit oft Geld leihen musste, um sein kleines Studio zu unterhalten. Die verkauften Lieder reichen kaum, um die Kosten zu decken.
Inmitten dieser schwierigen Phase, in einem kleinen Studio in Stockach, schreibt er 1989 den Song, der alles verändern wird. “Verdammt, ich lieb dich”. Zunächst will keine Plattenfirma das Lied haben. Die Melodie sei zu schlicht, der Text zu repetitiv, der Stil im Vergleich zu internationalen Trends zu “rustikal”. Doch als Polydor den Song 1990 veröffentlicht, explodiert er.
Der Erfolg ist beispiellos. 16 Wochen ununterbrochen auf Platz 1 der deutschen Charts – ein Rekord. Das Lied wird zum Phänomen in Österreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden. Matthias Reim, der fast pleitegegangene Studiomusiker, ist über Nacht ein nationaler Star. Sein Debütalbum “Reim” verkauft sich millionenfach. Sein Image – lange blonde Haare, Jeans, Lederjacke – bricht mit den Konventionen des adretten Schlagers. Er wirkt jugendlich, rockig, authentisch.
Die frühen 90er Jahre sind seine goldene Ära. Alben wie “Reim 2”, “Sabotage” und “Zauberland” werden zu Bestsellern. Er spielt Hunderte von Konzerten, seine kraftvolle Mischung aus Emotion und Rockenergie füllt die Hallen. Matthias Reim ist auf dem absoluten Gipfel seines Erfolgs. Und genau dort, im Rausch des Ruhms, beginnt der Absturz.
Wie Reim heute zugibt, war sein Erfolg das Produkt von “schlechtem Management”. Ende der 1990er Jahre, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, unterzeichnet er eine Reihe unrentabler Verträge. Er begeht den größten Fehler seines Lebens: Er übergibt die gesamte finanzielle Kontrolle an seinen Manager Alfred Reimann. Während Reim auf der Bühne steht und komponiert, werden in seinem Namen katastrophale unternehmerische Entscheidungen getroffen. Immobilienprojekte, Restaurants, Plattenläden – alles scheitert.
Da Reim für alles seinen Namen hergegeben hat, häufen sich die Schulden in astronomischer Höhe. Anfang der 2000er Jahre platzt die Bombe: Matthias Reim ist bankrott. Die Summe ist unvorstellbar: über 13 Millionen Euro Schulden.

Von einem Tag auf den anderen ist alles weg. Er verliert sein Haus, sein Auto, sein Studio. Der Mann, der die Charts anführte, steht vor dem absoluten Nichts. Die Medien, die ihn eben noch als “Wunder” gefeiert hatten, stürzen sich auf ihn. Zeitungen nennen ihn nur noch “den Mann mit 13 Millionen Euro Schulden”. Es ist eine öffentliche Hinrichtung. Reim zieht sich zurück, lebt in einem kleinen Mietshaus am Bodensee, verfolgt von Gläubigern und der Presse.
In dieser dunkelsten Phase seines Lebens, im Angesicht des totalen Ruins, tut Reim das Einzige, was er kann: Er schreibt Musik. Er gibt nicht auf. Er kämpft.
Im Jahr 2003 wagt er die Rückkehr. Er unterschreibt einen neuen Vertrag und veröffentlicht das Album “Reim 2003”. Die Musik ist anders. Sie ist “reifer”, “düsterer”, wie er selbst sagt. Die neuen Songs spiegeln die Erfahrungen von Zusammenbruch und Verlust wider. Alben wie “Unverwundbar” und “Sieben Leben” erzählen die Geschichte eines Mannes, der gestolpert ist, aber seinen Kampfgeist bewahrt hat. Seine Fans, das ist das Besondere an seiner Karriere, halten zu ihm.
Sie sehen in ihm nicht den gescheiterten Star, sondern den authentischen Menschen, der gefallen ist und wieder aufsteht. Das Publikum applaudiert nicht nur der Musik, sondern der Widerstandsfähigkeit.
Dann, im Jahr 2013, geschieht das, was die deutsche Presse das “Matthias Reim-Wunder” nennt. Mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Debüt, nach dem Bankrott und dem jahrelangen Kampf, veröffentlicht er das Album “Unendlich”. Es steigt von Null auf Platz 1 der deutschen Charts. Es ist nicht nur ein kommerzieller Erfolg, es ist die symbolische Wiederauferstehung. Matthias Reim hat es geschafft. Er hat die Schuldenkrise überstanden und sich seinen Platz zurückerobert.
Sein Leben nach dem Comeback ist ein anderes. Er lebt bescheidener, lebt am Bodensee, konzentriert sich auf seine Familie und seine Musik. Alben wie “Phönix” (2016) – wie passend der Titel – und “Meteor” (2018) festigen seinen Status. Er hat sich neu erfunden, nicht indem er sich veränderte, sondern indem er zu sich selbst fand.
Doch das Schicksal hält einen weiteren Schlag für ihn bereit. Im Jahr 2022 widmet er seinem ersten Sohn Bastian, der im Alter von nur 35 Jahren verstarb, den Song “Bastian (Blaulicht in der Nacht)”. Dieser Verlust, so sagen viele, hat seiner Musik eine neue, tiefere Dimension verliehen.
Heute, mit über 60 Jahren, steht Matthias Reim immer noch mit der Energie eines jungen Mannes auf der Bühne. Seine Fans sind mit ihm gealtert. Diejenigen, die ihn in den 90ern als Jugendliche feierten, bringen heute ihre eigenen Kinder zu den Konzerten. Drei Generationen singen “Verdammt, ich lieb dich” – ein kollektives Ritual, das weit über einen einzelnen Song hinausgeht.
Reim ist zu einem Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden. Musikkritiker mögen seine Musik als repetitiv oder wenig innovativ abtun. Die Presse mag sein kompliziertes Privatleben und seine vielen Beziehungen als “instabil” bezeichnen. Doch seine Fans sehen etwas anderes. Sie sehen einen Mann, der sich nie verstellt hat. Dessen Turbulenzen im Privatleben seinen wahren Charakter widerspiegeln: nichts Aufgesetztes.
Matthias Reim ist kein perfektes Symbol. Aber gerade diese Unvollkommenheit macht ihn zu einer Identifikationsfigur. Die Menschen sehen in ihm sich selbst – einen Menschen, der stolpert, wieder aufsteht, falsch liebt, verliert und trotzdem weitersingt. Er ist der Beweis, dass Scheitern nicht das Ende ist, sondern ein Teil des Lebens. Für Deutschland ist Matthias Reim nicht nur ein Künstler. Er ist, nach mehr als drei Jahrzehnten voller Höhen und Tiefen, ein Teil ihrer Seele.