Eine Stadt hält den Atem an. Güstrow, eine beschauliche Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, ist aus ihrem Frieden gerissen worden. Der Name, der wie ein dunkler Schatten über den Dächern liegt, ist Fabian. Ein achtjähriger Junge, dessen Leben auf unvorstellbar grausame Weise beendet wurde. Am 10. Oktober verschwand er spurlos. Vier Tage später die schreckliche Gewissheit: Seine verbrannte Leiche wird gefunden. Der Schock sitzt tief, die Trauer ist lähmend. In der Pfarrkirche haben Freunde, Bekannte und Fremde, die zu Mitfühlenden wurden, Blumen, Kerzen und stumme Gebete niederglegt. Ein Meer aus Lichtern gegen eine unbegreifliche Dunkelheit.
Inmitten dieses kollektiven Traumas steht nun eine Frau im Zentrum eines medialen Sturms: Gina H., die Ex-Freundin von Fabians Vater. Sie wurde als Hauptverdächtige festgenommen. Ein Pickup, der ihr gehören soll, wurde von der Polizei abgeschleppt – ein Bild, das sich in das Gedächtnis der Anwohner gebrannt hat. Sie sitzt in Untersuchungshaft.
Während die Ermittlungen wegen des schrecklichen Mordverdachts mit Hochdruck laufen und ihr Anwalt betont, es handle sich um einen reinen Indizienprozess, tauchen nun neue, zutiefst beunruhigende Details aus der Vergangenheit von Gina H. auf. Es sind Enthüllungen, die ein völlig neues Licht auf die Persönlichkeit der Frau werfen, die im Verdacht steht, ein Kind ermordet zu haben. Diese Enthüllungen stammen nicht aus dem aktuellen Fall, sondern aus einer Gerichtsakte aus dem Jahr 2022.

Für jede Berichterstattung in einem so sensiblen Fall ist ein Punkt von höchster Wichtigkeit: Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Gina H. ist eine Tatverdächtige, keine verurteilte Mörderin. Doch die Informationen, die nun durch Berichte der “Bild”-Zeitung an die Öffentlichkeit gelangen, zeichnen das Bild eines Charakters, das Fragen aufwirft und die Menschen in Güstrow ein weiteres Mal schockiert.
Die neuen Erkenntnisse führen uns drei Jahre zurück, ins Jahr 2021, auf einen Pferdehof im kleinen Örtchen Alt Sührkow. Gina H. war dort als begeisterte Springreiterin bekannt. Doch die Idylle auf dem Reiterhof bekam Risse. Im Winter 2021 verschwand plötzlich ein hochwertiger Pferdesattel, inklusive Steigbügeln und einem speziellen Reitpad. Der Wert des Diebesguts: fast 4.000 Euro. Es war kein Kavaliersdelikt, sondern ein erheblicher materieller Schaden.
Die Eigentümerin des Sattels, Malis Möwe Jarren, wandte sich nun mit ihrer Geschichte an die Presse. Sie erinnert sich an den Vorfall, der sie damals stutzig machte. “Der Sattel war eingeschlossen”, zitiert sie die “Bild”. “In der Mittagspause war der Schrank aber manchmal kurz offen.” Ihr sei damals eine Reiterin auf dem Hof aufgefallen – Gina H. Sie habe die Verdächtige nicht persönlich gekannt, aber gewusst, dass diese “bisher eigentlich mit immer eher veralteten Ausrüstung genutzt hat.” Diese Beobachtung allein mag noch kein Beweis sein, doch was folgte, verdichtete den Verdacht dramatisch.
Malis Möwe Jarren sprach Gina H. schließlich direkt auf ihre Beobachtungen an. Die Reaktion der damals Beschuldigten war alles andere als deeskalierend. “Sie war gleich total explosiv und ist wutentbrannt abgehauen”, berichtet die Sattel-Eigentümerin. Dieses Detail, diese beschriebene Jähzornigkeit, lässt Beobachter des aktuellen Falls aufhorchen. Es ist ein Wesenszug, der in krassem Gegensatz zu dem Bild einer unschuldigen, zu Unrecht beschuldigten Frau steht.
Die Geschichte war damit nicht zu Ende. Die Bestohlene gab nicht auf. Zwei Wochen nach der explosiven Konfrontation machte sie eine entscheidende Entdeckung: Sie fand das gestohlene Reitpad auf dem Online-Marktplatz “Kleinanzeigen”. Und nicht nur das. Im Hintergrund des Anzeigenfotos erkannte sie einen Freund von Gina H.
Mit diesen handfesten Beweisen ging sie zur Polizei. Gina H. soll den Diebstahl gegenüber den Beamten vehement abgestritten haben. Doch die Indizien reichten aus. Die Polizei erwirkte einen Durchsuchungsbeschluss. Die Ermittler wurden fündig, allerdings nicht bei Gina H. selbst, sondern, wie die Geschädigte berichtet, im Haus ihrer Großeltern in Reimershagen. Dort soll der 4.000-Euro-Sattel gefunden worden sein.
Der Fall landete unweigerlich vor Gericht. Im November 2022, fast auf den Tag genau drei Jahre vor den schrecklichen Ereignissen um den kleinen Fabian, musste sich Gina H. vor dem Amtsgericht Güstrow wegen Diebstahls verantworten. Mit ihr auf der Anklagebank saß der Freund, der auf dem Online-Foto zu sehen war.
Die Schilderungen aus dem Gerichtssaal werfen weitere Fragen auf. Laut Malis Möwe Jarren habe Gina H. noch im Prozess versucht, “die Schuld auf ihren Freund abzuwälzen.” Dieser habe jedoch ausgesagt, er sei nur das Auto gefahren und habe “gar nicht gewusst, was los ist.” Das Gericht folgte dieser Darstellung offenbar. Gina H. wurde als Hauptverantwortliche für den Diebstahl angesehen.
Das Urteil fiel dennoch milde aus. Da es sich um ihre “erste Straftat” gehandelt habe, so die Zeugin, musste Gina H. lediglich die nicht zurückgegebenen Steigbügel und Riemen im Wert von 380 Euro finanziell ersetzen. Der wertvolle Sattel war ja durch die Durchsuchung wieder aufgetaucht. Für Gina H. war der Fall juristisch damit erledigt. Doch sozial fingen die Probleme erst an.
Die Konsequenzen auf dem Reiterhof waren hart. Laut einer ehemaligen Vereinskameradin flog Gina H. nach dem Vorfall aus dem Reitverein und erhielt Hofverbot. Das Vertrauen war unwiederbringlich zerstört. Diese Kameradin, die anonym bleiben möchte, findet im Rückblick klare Worte für die Persönlichkeit der Tatverdächtigen: “Sie war in der Persönlichkeit nie ganz einfach.”
Es ist ein Satz, der vage klingt und doch so viel aussagt. Er deutet auf Konflikte hin, auf eine Person, die aneckte, die vielleicht schon früher durch ein problematisches Sozialverhalten aufgefallen war. Und dann folgt die Aussage, die im Kontext des Mordfalls Fabian Gänsehaut verursacht: “Überraschend kamen die Nachrichten über ihre Festnahme für mich nicht.”
Eine Frau, die Gina H. kannte, ist “nicht überrascht”, dass diese von der Polizei festgenommen wird. Es ist eine erschütternde Einschätzung. Die Zeugin relativiert jedoch sofort: “Trotzdem ist man natürlich schockiert. Der arme Junge, mir tut das unendlich leid.” Sie zieht, wie es sich gehört, eine klare Linie zwischen einem Diebstahl und dem monströsen Vorwurf des Mordes. “Da sehe ich schon mal noch ein ganz, ganz großes Gap dazwischen”, wird sie zitiert.
Und doch bleibt die Frage im Raum: Was sagt diese Episode über den Charakter von Gina H. aus? Zeigt sie eine Neigung zu kriminellem Handeln? Eine Fähigkeit zu lügen und andere zu manipulieren, um die eigene Haut zu retten? Eine “explosive” Impulsivität, wenn sie konfrontiert wird?
Die Geschichte endet hier nicht. Offenbar war der Diebstahl des Sattels kein einmaliger Ausrutscher, der zu einer Verurteilung führte. Es scheint sich ein Muster abzuzeichnen. Nach dem Urteil im Jahr 2022 geriet Gina H. offenbar erneut in Schwierigkeiten. Sie fand eine Anstellung in einem Geschäft für Reitbedarf. Doch das Arbeitsverhältnis war nur von kurzer Dauer. “Sie hat hier gearbeitet, aber auch nicht lange”, bestätigt eine Mitarbeiterin des Geschäfts gegenüber “Bild”.
Der Grund für die schnelle Trennung: “dem Vernehmen nach wegen Verdachts auf kleinere Diebställe.” Es soll um Dinge wie Fliegenmasken für Pferde gegangen sein. Ob diese mutmaßlichen Diebstähle jemals zur Anzeige gebracht wurden, ist nicht bekannt. Doch es fügt dem Puzzle ein weiteres Teil hinzu: ein Bild von Unzuverlässigkeit und einer potenziellen, wiederkehrenden Neigung zur Kriminalität.
Der Anwalt von Gina H. wollte sich zu dem alten Diebstahlsverfahren nicht äußern. Er betonte, dass dieser Fall “keinen Bezug zu den aktuellen Beschuldigungen” habe. Aus juristischer Sicht ist diese Haltung korrekt. Ein vergangener und verbüßter Diebstahl ist kein Beweis für einen Mord. In unserer Gesellschaft gilt das Prinzip der Rehabilitation. Wer seine Strafe verbüßt hat, beginnt von Neuem.

Doch für die Menschen in Güstrow, für die trauernde Familie von Fabian und für die Ermittler, die ein unvorstellbar grausames Verbrechen aufklären müssen, werfen diese Enthüllungen einen langen, dunklen Schatten. Sie nähren die Zweifel und Ängste.
Die Ermittlungen im Fall Fabian sind noch lange nicht abgeschlossen. Nach einem Aufruf in der Sendung “Aktenzeichen XY” sollen über 30 Hinweise bei den Behörden eingegangen sein, denen nun nachgegangen wird. Es ist, wie der Anwalt der Verdächtigen selbst sagt, ein Indizienprozess. Jedes Puzzleteil, jedes Zeugnis über den Charakter und das Verhalten der Hauptverdächtigen, wird von den Ermittlern akribisch geprüft werden.
Für die Gemeinschaft bleibt eine zerreißende Ungewissheit. Sie trauern um einen achtjährigen Jungen und blicken auf eine Tatverdächtige, deren neu enthüllte Vergangenheit das Entsetzen nur noch vergrößert. Der Weg zur Wahrheit ist oft komplex und steinig. Im Fall des kleinen Fabian führt er durch ein Dickicht aus Trauer, Entsetzen und nun auch durch die dubiose Akte einer Frau, deren Persönlichkeit “nie ganz einfach” war.