Ein demokratischer Eklat: Warum die abgelehnte Neuauszählung für das BSW das Vertrauen in unsere Wahl zutiefst erschüttert

Ein Beben geht durch die politische Landschaft Deutschlands, doch es ist ein stilles Beben. Eines, das sich in den Gängen der Bürokratie vollzieht und dennoch die Grundfesten unseres demokratischen Selbstverständnisses erschüttert. Die Nachricht ist ein Hammer, ein Wort, das man in politischen Kommentaren oft leichtfertig verwendet, das aber hier seine volle, schwere Berechtigung findet: Es wird keine Neuauszählung der Stimmen zur Bundestagswahl 2025 geben. Die Bundeswahlleiterin, Ruth Brand, hat die Wahleinsprüche des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) abgeschmettert.

Diese Entscheidung ist weit mehr als eine technische Formalität. Sie ist ein politisches Fanal, das einen langen, dunklen Schatten auf das Vertrauen in unsere Institutionen wirft. Um das ganze Ausmaß dieses Eklats zu verstehen, muss man sich die Zahlen vor Augen führen. Es geht nicht um Hunderttausende von Stimmen. Es geht um eine Lücke von etwas mehr als 9.500 Stimmen. Das ist die Differenz, die das BSW von der magischen Fünf-Prozent-Hürde trennt – eine Hürde, die über politisches Sein oder Nichtsein, über parlamentarische Vertretung oder die bittere Bedeutungslosigkeit entscheidet.

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Man muss kein Anhänger von Sahra Wagenknecht oder ihrer Politik sein, um an dieser Stelle innezuhalten. Im Gegenteil, viele, die dieser Partei und ihrer Namensgeberin zutiefst kritisch gegenüberstehen, empfinden die aktuelle Entwicklung als das, was sie ist: zutiefst undemokratisch. Es kann und darf in einer gefestigten Demokratie nicht sein, dass ein derart massiver Zweifel im Raum stehen bleibt, wenn die Konsequenzen so gewaltig sind.

Was sind die Fakten? Das BSW legte nach der Wahl, bei der es denkbar knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, mehrere Wahleinsprüche beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages ein. Die Forderung: eine Neuauszählung, möglichst im gesamten Bundesgebiet. Der Grund: Es gab von Anfang an massive Ungereimtheiten. Und dieser Verdacht ist nicht aus der Luft gegriffen.

Wir müssen uns erinnern: Unmittelbar nach der Wahl fehlten dem BSW über 13.000 Stimmen. Doch dann geschah etwas Bemerkenswertes. Nach ersten Prüfungen und Korrekturen, die bereits im März 2025 stattfanden, tauchten plötzlich 4.277 Stimmen “mehr” für das BSW auf. Ein “kleiner Sieg”, wie es damals hieß. Ein Sieg, der jedoch vor allem eines beweist: Es wurden eklatante Fehler gemacht. Die Lücke schmolz auf die nun verbleibenden 9.500 Stimmen. Dieser eine, unumstößliche Fakt hätte ausreichen müssen, um jede Institution, der an Transparenz gelegen ist, in Alarmbereitschaft zu versetzen. Wenn bereits bei einer oberflächlichen Prüfung Tausende von Stimmen falsch zugeordnet wurden, wie kann man dann eine tiefgreifende, flächendeckende Prüfung verweigern?

Die Antwort der Bundeswahlleiterin, festgehalten in einer Stellungnahme vom 4. Juli, die aber erst jetzt, Monate später, an die Öffentlichkeit dringt, ist ein Meisterwerk der bürokratischen Abwehr. Darin erklärt Ruth Brand, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, im Grunde, dass das BSW in seiner Rechtsauffassung irre. Mehr noch, sie wirft der Partei eine “juristisch ungenaue Ausdrucksweise” vor.

Der Kern ihrer Argumentation ist jedoch ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: “Eine generelle Verpflichtung zur Nachprüfung auf Ordnungsmäßigkeit und Vollständigkeit sowie Plausibilität bestehe nicht.” Eine solche Prüfung komme nur “im Einzelfall aus gegebenem Anlass” in Betracht.

Man muss kein Jurist sein, um die Absurdität dieser Aussage zu erkennen. Wenn der Fund von über 4.000 falsch gezählten Stimmen, der zu einer signifikanten Verschiebung des Ergebnisses führt, kein “gegebener Anlass” ist – was dann? Wenn zahlreiche Berichte von Wahlbeobachtern und Helfern vorliegen, die von einer massenhaften Verwechslung von “Bündnis Sahra Wagenknecht” und “Bündnis Deutschland” auf den Stimmzetteln berichten, kein “gegebener Anlass” ist – was dann?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass dies einer der Hauptpunkte der Zählfehler war. Die Ähnlichkeit der Namen auf den langen Wahlzetteln führte offensichtlich zu Verwirrung. Das “Bündnis Deutschland”, eine Partei, die kaum jemand auf dem Zettel hatte, erhielt erstaunlich viele Stimmen. Deren Vorsitzender, Stefan Große, sagte sogar öffentlich: “Wir möchten keine Wählerstimmen verbuchen, die uns eigentlich nicht gehören. Das gebietet der Anstand und die Fairness auch in der Politik.” Selbst der politische Gegner spürt hier, dass etwas fundamental falsch gelaufen ist.

Auch andere Stimmen aus dem Parlament wurden laut. Stefan Brandner, der stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD, warf den anderen Fraktionen vor, “auf Zeit zu spielen” und forderte eine schnelle Entscheidung. Doch die Entscheidung, die nun kam, ist keine Klärung. Es ist eine Vertagung des Problems auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, ein Abwürgen der Debatte durch formale Kälte.

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Die Arroganz der Macht, die aus dieser Entscheidung spricht, wird noch an anderer Stelle deutlich. Die Bundeswahlleiterin, so heißt es, betrachte sich selbst nicht als “auskunftspflichtige Behörde” im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes. Wahlorgane seien “Organe eigener Art” und stünden außerhalb der Behördenorganisation. Das muss man sich vorstellen: Die Institution, die über die korrekteste Zählung und damit über die Legitimität unserer Regierung wacht, entzieht sich der vollen Transparenzpflicht gegenüber dem Bürger.

Und hier kommen wir zum eigentlichen Kern des Skandals. Es geht längst nicht mehr nur um das BSW. Es geht um die 37 Mandate, die im Bundestag neu verteilt werden müssten, sollte das BSW die 5,0 Prozent doch noch erreichen. Jede einzelne andere Partei im Bundestag würde Sitze verlieren. Das gesamte Machtgefüge würde sich verschieben.

Und es geht um mehr: Wenn das Wahlergebnis, auf dessen Basis die Regierungskoalition gebildet wurde, sich als falsch erweist, stünde die Legitimität des amtierenden Kanzlers zur Disposition. Die gesamte Wahl wäre, juristisch und moralisch, nicht mehr haltbar. Ein solches Szenario hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben.

Ist das der wahre Grund, warum diese Neuauszählung mit aller Macht verhindert werden soll? Will man diesen “Betriebsunfall” der Demokratie nicht zulassen, weil die Konsequenzen zu unbequem, zu chaotisch, zu gefährlich für die etablierten Parteien wären?

Der Verdacht wiegt schwer. Wenn alles legitim und in Ordnung wäre, gäbe es den einfachsten Weg, alle Zweifel auszuräumen: Transparenz. Man müsste nur neu auszählen. Es wäre vielleicht mühsam, es würde Geld kosten, aber es würde den Frieden wiederherstellen. Wenn am Ende einer Neuauszählung immer noch 4,99 Prozent für das BSW stünden – die Welt würde nicht untergehen. Das Ergebnis wäre bitter für die Partei, aber es wäre ein Ergebnis, das auf einem sauberen Prozess basiert.

Was wir jetzt haben, ist das genaue Gegenteil. Wir haben ein Ergebnis, das mit dem Makel des Zweifels behaftet ist. Ein Ergebnis, das nach Gutsherrenart verteidigt wird, nicht durch Beweise, sondern durch bürokratische Dekrete.

Diese ganze Affäre ist ein herber Schlag für unsere Demokratie. Sie nährt den Zynismus. Sie gibt all jenen Futter, die behaupten, “die da oben” würden es ohnehin richten, wie sie es brauchen. Die Veröffentlichung der vollständigen Ergebnisse auf Wahlbezirksebene ließ 47 Tage auf sich warten – ein Umstand, den die Bundeswahlleiterin als “normal” abtut, da es 2021 noch länger gedauert habe. Doch in einer Zeit, in der das Vertrauen in Prozesse ohnehin fragil ist, ist eine solche Verzögerung pures Gift.

Während dieser juristische und politische Kampf tobte, scheint das BSW selbst bereits einen neuen Weg einzuschlagen. Kürzlich wurde bekannt, dass die Partei sich umbenennen möchte. Der Name “Sahra Wagenknecht” soll aus dem Titel verschwinden, ersetzt durch “Bündnis soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft”. Ein Versuch, sich breiter aufzustellen, sich von der polarisierenden Gründungsfigur zu emanzipieren?

Vielleicht ist es auch ein Eingeständnis, dass der Kampf um die Wahl 2025 verloren ist. Sahra Wagenknecht selbst hatte Anfang November noch einen Brandbrief an Bundestagspräsidentin Julia Klöckner geschrieben, ein letzter verzweifelter Appell. Er verhallte ungehört.

Neu gegründetes Bündnis Sahra Wagenknecht hält ersten Parteitag ab |  tagesschau.de

Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Viele politische Beobachter sind der Meinung, dass das BSW sein Schicksal auch selbst mitbesiegelt hat. Hätte die Partei sich in den Landtagen von Thüringen und Brandenburg anders verhalten, hätte sie dort nicht den “Altparteien” zu weiterer Macht verholfen, sondern klare Kante gezeigt – das Ergebnis auf Bundesebene hätte anders aussehen können. Die Weigerung, mit der AfD in Thüringen eine Koalition einzugehen und stattdessen eine instabile Minderheitsregierung zu dulden, hat viele potenzielle Wähler verprellt, die sich eine fundamentale Änderung gewünscht hatten. Wäre Björn Höcke dort mit Unterstützung des BSW Ministerpräsident geworden, es wäre ein Signal gewesen, das dem BSW auf Bundesebene womöglich die entscheidenden 0,1 Prozent gebracht hätte.

Doch diese politische Analyse ändert nichts an der Tatsache, dass die Wahl, so wie sie stattgefunden hat, korrekt ausgezählt werden muss. Die aktuelle Entscheidung, dies zu verweigern, ist ein Skandal, der noch lange nachwirken wird. Es ist ein Sieg der Bürokratie über die Transparenz, ein Sieg der Förmlichkeit über die Legitimität. Und am Ende ist es eine Niederlage für jeden einzelnen Wähler, dessen Stimme nun im Nebel der Ungewissheit verschwindet.

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