Es gibt Tage im Deutschen Bundestag, die mehr sind als nur politische Routine. Es sind Tage, an denen der Plenarsaal zur Arena wird, an denen Worte wie Waffen geschleudert werden und die Fassaden der politischen Professionalität Risse bekommen. Kürzlich ereignete sich ein solcher Moment, der nun in den sozialen Medien millionenfach geteilt wird und eine Debatte von ungeheurer Sprengkraft befeuert. Im Zentrum: AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Ihr Ziel: die gesamte Bundesregierung und die sie tragenden Parteien. Ihr prominentestes Opfer: SPD-Chefin Saskia Esken, die, so der virale Titel des Videos, “plötzlich kreidebleich” wurde, als Weidel sie “eiskalt entlarvt”.
Es war keine Rede im klassischen Sinne. Es war eine Generalabrechnung. Ein Frontalangriff, der darauf abzielte, die moralische Deutungshoheit im politischen Diskurs fundamental zu verschieben. Weidel nutzte die Bühne des Bundestages für eine rhetorische Meisterleistung ihrer Anhänger – und eine Provokation sondersgleichen für ihre Gegner. Sie tat nicht weniger, als den Spieß umzudrehen und den Extremismus-Vorwurf, der ihrer Partei permanent anhaftet, direkt an die “Altparteien” zurückzugeben.

Der erste Schlag traf Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und seinen Koalitionspartner, die SPD. Weidel warf Merz vor, sich in einer selbstgebauten “Asylfalle” verfangen zu haben. Er sei ein Gefangener seiner eigenen “demokratischen Brandmauer”. Diese Brandmauer, so Weidels provokante These, diene in Wahrheit nur einem Zweck: den “abgewählten Linken hier ein Dauerabo auf die Macht zusichern” zu sollen. Die SPD, so die Implikation, blockiere jede vernünftige Wende in der Migrationspolitik und Merz sei zu schwach, sich durchzusetzen. Ein Kanzler in Ketten, handlungsunfähig gemacht durch den eigenen Koalitionspartner.
Doch Weidel beließ es nicht bei der Kritik an der Tagespolitik. Sie weitete ihren Angriff auf die Institutionen des Staates aus. Mit scharfen Worten griff sie den Inlandsgeheimdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz, an. Sie warf der Behörde “jämmerliches Versagen” bei ihren eigentlichen Aufgaben vor – der Abwehr von islamischem Terror und ausländischer Spionage. Stattdessen, so Weidel, werde der Verfassungsschutz “willkürlich und missbräuchlich” instrumentalisiert, um das “Dogma” der Brandmauer zu zementieren und die Opposition mundtot zu machen.
Als Kronzeugin für diesen angeblichen Missbrauch nannte sie die ehemalige SPD-Innenministerin Nancy Faeser und ein von ihr lanciertes “absurdes Geheimgutachten”. Obwohl der Verfassungsschutz, so Weidel, seine Einstufung “unter dem Druck der Rechtslage” habe zurücknehmen müssen, diene das Narrativ weiterhin dazu, ihre Fraktion und “über 10 Millionen Wähler zu diskriminieren” und ihnen “wesentliche parlamentarische Rechte vorzuenthalten”. Es ist das Bild eines tiefen Staates, der nicht mehr die Verfassung schützt, sondern eine bestimmte politische Ideologie.
Nachdem sie die Institutionen attackiert hatte, wandte sich Weidel dem ideologischen Kern des Konflikts zu. Sie griff direkt die Debatte um den “Volksbegriff” auf. In einer Äußerung, die bei ihren Gegnern Schnappatmung ausgelöst haben dürfte, erklärte sie: “Ein ethnischer Volksbegriff ist nicht Grundgesetzwidrig, denn das Grundgesetz selbst legt ihn zugrunde”. Es war eine gezielte Provokation, eine offene Kampfansage an das herrschende Verständnis der bundesrepublikanischen Identität als Verfassungspatriotismus.
Der Höhepunkt ihrer Rede war jedoch die rhetorische Umkehrung des Extremismus-Begriffs. Wer, so fragte Weidel sinngemäß, ist hier der wahre Extremist? Und sie lieferte ihre eigene Definition, eine Anklageschrift gegen die etablierte Politik:
Ein Extremist sei, wer eine “zerstörerische Politik der offenen Grenzen installiert”.
Ein Extremist sei, wer “unter dem Etikett von Coronamaßnahmen Panik verbreitet und willkürlich Grundrechte einschränkt”. Hier traf sie den Nerv ihrer Anhänger und all jener, die sich in den letzten Jahren gegängelt fühlten. Sie sprach von “Hasskampagnen” gegen Ungeimpfte, orchestriert vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Zwischenkommentar im Video, der eine “lückenlose Aufarbeitung” fordert und verlangt, “es müssen Handschellen klicken”, zeigt die tiefe Wut, die in Teilen der Bevölkerung über diese Zeit herrscht. Weidel gab dieser Wut eine Stimme im höchsten Parlament.
Ihre Liste war damit nicht zu Ende. Ein Extremist sei, wer “den Wohlstand der Bürger und der Nation mit ökosozialistischer Transformation zerstört”. Ein Extremist sei, wer “mit abgewählten Mehrheiten die Verfassung manipuliert, um sich einen Schulden-Blancocheck auszustellen” auf Kosten zukünftiger Generationen.
Dann wurde Weidel noch direkter. Sie verband vermeintlichen Linksextremismus direkt mit der politischen Mitte. Ein Extremist sei, “wer mit einer Hammerbande Andersdenkende überfällt” – eine klare Anspielung auf den Fall um Lina E. – “und dafür mit dem Segen des bayerischen Ministerpräsidenten Söder auch noch Kulturpreise erhält”. Der Vorwurf: Der Staat finanziere und belohne jene, die “Gelenke und Leben zertrümmern”.
Schließlich zielte sie auf “Die Linke”. Ein Extremist sei, “wer wie die Linke das System stürzen und Reiche erschießen” wolle, aber dennoch von den etablierten Parteien “mit unterwürfiger Anbiederung hofiert” werde.
Ihre Schlussdefinition war der rhetorische K.o.-Schlag: Der wahre Extremist, so Weidel unter dem Lärm der Zwischenrufe, sei der, “wer unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Pluralismus, demokratische Grundprinzipien, bürgerliche Freiheiten und die Meinungsfreiheit abschaffen will”. Mit diesem Satz hatte sie den Spieß vollends umgedreht. Sie nutzte exakt die Sprache, die von ihren Gegnern gegen die AfD verwendet wird, und richtete sie gegen das Establishment selbst. Die Botschaft: Ihr seid die wahren Feinde der Freiheit.
Und Saskia Esken? Das virale Video fängt ihre Reaktion ein, oder zumindest das, was der Kommentator als solche interpretiert. Er beschreibt eine SPD-Vorsitzende, die “gelangweilt, fast schon ausgebrannt in irgendeine Ecke schaut”, weil sie merke, dass Weidel “den Pudelkern getroffen” habe. Ob Esken nun kreidebleich, gelangweilt oder einfach nur befremdet war – das Bild, das das Video zeichnet, ist das einer entlarvten, sprachlosen politischen Elite.
Der Kommentator im Video gießt genüsslich Öl ins Feuer. Er verhöhnt die Zwischenrufe der “Altparteien” als Beweis dafür, dass sie “keine Benimmregeln” kennen. Er spottet, man müsse bei ihnen “bei einfachsten Definitionen anfangen”, als würde man mit Kindern sprechen, die den Ernst der Lage nicht verstehen.
Diese Rede von Alice Weidel war weit mehr als eine parlamentarische Debatte. Sie war eine sorgfältig inszenierte Performance, die gezielt für die Verbreitung in den sozialen Medien konzipiert wurde. Mit drei Millionen Aufrufen auf nur einer Plattform hat sie ihr Ziel erreicht. Sie hat die “Wir gegen die da oben”-Erzählung perfektioniert. Sie positionierte sich selbst als die furchtlose Stimme der Vernunft und des “Volkes” gegen einen angeblich korrupten, extremistischen und abgehobenen Apparat aus Politik, Medien und Geheimdiensten.

Unabhängig davon, wie man zu den Inhalten steht – ob man Weidels Definition von Extremismus teilt oder sie als gefährliche Geschichtsverdrehung und Täter-Opfer-Umkehr betrachtet –, eines ist unbestreitbar: Diese Rede legt die tiefen, unüberbrückbaren Gräben offen, die sich durch die deutsche Gesellschaft ziehen. Der Moment, in dem Saskia Esken “kreidebleich” geworden sein soll, ist ein Symbol für den Zusammenprall zweier unvereinbarer Wirklichkeiten, die im Plenarsaal des Bundestages aufeinanderprallten. Es war die laute, unüberhörbare Kriegserklärung an den politischen Status quo.