Die kleine Stadt Güstrow ist ein Schauplatz tiefster menschlicher Trauer und eruptiver Wut. Sie ist das Zentrum eines Dramas, das die Grundfesten des deutschen Rechtsstaates auf die Probe stellt: der grausame Mord am achtjährigen Fabian. Ein Kind, herausgerissen aus dem Leben durch eine Tat, die das Herz einer ganzen Gemeinschaft zerrissen hat. Doch inmitten dieses Sturms aus Emotionen, Forderungen nach Gerechtigkeit und medialer Hysterie steht ein Mann, dessen Rolle fast unmöglich erscheint – eine lebende Verkörperung des Konflikts zwischen Recht und öffentlicher Verantwortung: Andreas Om.
Om ist nicht nur der Pflichtverteidiger der Tatverdächtigen, sondern auch der Stadtpräsident von Güstrow. Allein diese Doppelrolle ist ein politisches, juristisches und menschliches Drama, das in seiner Komplexität beispiellos ist. Wie soll ein Mann gleichzeitig das Wohl und die Verfahrensrechte seiner Mandantin verteidigen und zugleich die Interessen einer Stadt vertreten, deren Bürger in ihrer tiefsten Trauer und Wut eine sofortige und unzweideutige Verurteilung der Tat fordern? Jeder Schritt, jede Äußerung, jede noch so kleine Entscheidung Oms wird unter dem Vergrößerungsglas der Öffentlichkeit betrachtet – eine öffentliche Meinung, die in diesem emotional aufgeladenen Fall bereits ein Urteil gefällt hat.

Die Doppelbelastung: Anwalt, Politiker, Mensch
Die Pflichten, denen Andreas Om gegenübersteht, könnten nicht gegensätzlicher sein. Als Anwalt ist seine einzige Verpflichtung die Wahrung der Rechte seiner Mandantin. Das bedeutet, er muss die Beweislage sorgfältig prüfen, Zweifel säen und sicherstellen, dass das Prinzip in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – gewahrt bleibt. Dies ist die kalte, unumstößliche Logik des Rechtsstaats, die absolute Unabhängigkeit der Verteidigung, die selbst der mutmaßlich Schuldigen Schutz gewährt.
Als Stadtpräsident hingegen ist Om der oberste Repräsentant Güstrows. Er trägt die Verantwortung für das Wohl der Bürger, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und nicht zuletzt für das emotionale Ventil der Gemeinschaft. Er muss trösten, er muss Solidarität zeigen und die Forderungen nach Gerechtigkeit artikulieren. Diese beiden Rollen sind wie magnetische Pole, die sich unaufhaltsam abstoßen. Jede Handlung, die er als Verteidiger unternimmt, wird von seinen Bürgern als Verrat empfunden werden können. Gewinnt er den Prozess, riskiert er, als der Mann in die Geschichte Güstrows einzugehen, der eine Mörderin laufen ließ und das Leid der Opferfamilie ignorierte. Verliert er, könnte ihm vorgeworfen werden, er habe seine juristische Pflicht nicht mit der notwendigen Härte erfüllt, da seine politische Rolle ihn gehemmt hat. Es ist ein Spagat, der fast unmöglich zu vollziehen ist, ein Konflikt, der die Grenzen von Ethik und Pflicht verschwimmen lässt. Om ist gefangen in einem Netz aus Erwartungen, Vorurteilen und Verantwortungen, das ihn in alle Richtungen gleichzeitig zieht.
Die Subtilität der Strategie: Die Entmenschlichung stoppen
Mitten in dieser aufgeheizten Atmosphäre wählte Om seine ersten öffentlichen Worte mit chirurgischer Präzision. Sie waren einfach, fast beiläufig, aber von tiefster strategischer Bedeutung: „Es geht ihr nicht gut.“
Dieser kurze Satz, der die emotionale Verfassung der Tatverdächtigen beschreibt, mag in den Ohren der trauernden Stadt wie eine Provokation klingen, wie ein Mangel an Empathie für das Opfer. Doch juristisch und rhetorisch steckt eine ausgeklügelte Strategie dahinter. In einer Debatte über grausame Taten neigt die Gesellschaft dazu, den Täter zu entmenschlichen – ihn als „Monster“ abzustempeln, dessen Rechte keine Gültigkeit mehr haben. Om durchbricht diese Logik. Mit seinem Satz signalisiert er: Dies ist kein Monster, dies ist ein Mensch, der leidet. Er versucht, die öffentliche Wahrnehmung zu lenken, bevor die Schlagzeilen und die Wut der Straße jede Spur von Rechtsstaatlichkeit zerreißen. Es ist ein Versuch, das Prinzip der Unschuldsvermutung nicht völlig im Chor der Empörung untergehen zu lassen.
Diese menschliche Geste, die gleichzeitig eine juristische Taktik ist, ist ein Hochseilakt. Om muss die Menschlichkeit seiner Mandantin wahren, um ihre verfassungsmäßigen Rechte zu schützen, während er gleichzeitig dem politischen Zorn trotzen muss, der genau diese Menschlichkeit leugnet. Er muss psychologisch und strategisch agieren, denn jede Aussage, jede Reaktion wird von allen Seiten interpretiert, oft falsch und immer im Licht der Tragödie um den kleinen Fabian. In der kleinen Stadt Güstrow wird professionelles Schweigen schnell als Provokation empfunden, als fehlende Reue, als verstecktes Schuldeingeständnis.
Die Materialschlacht: Die acht dicken Ordner und das Indizienmosaik
Die Verteidigungsstrategie Oms basiert auf einer weiteren, nicht minder brisanten Entscheidung: Er riet seiner Mandantin zum Schweigen. Auch dieses Schweigen wirkt für Außenstehende manchmal wie ein klares Schuldeingeständnis. Doch juristisch ist es oft die einzige Möglichkeit, um die Rechte der Mandantin zu wahren. Vor Om liegen acht dicke Ordner voller Ermittlungsunterlagen – Dokumente, die die Staatsanwaltschaft über Monate gesammelt hat. Es ist eine gigantische Materialschlacht, die Geduld, Intelligenz und absolute Präzision erfordert.
Der Fall Fabian beruht, wie viele moderne Kriminalfälle, auf einem komplexen Indizienmosaik. Es gibt selten den einen, direkten Beweis. Stattdessen enthalten die Akten ein verschachteltes Netz aus Tausenden von Puzzleteilen:
Digitale Spuren: Chats, Suchanfragen, Standortdaten.
Zeugenaussagen: Widersprüche und Interpretationen.
Bewegungsprofile: Rekonstruktionen des Aufenthaltsorts der Tatverdächtigen.
Forensische Gutachten: DNA-Spuren, die interpretiert werden müssen.
Jede Aussage, die die Frau unter dem Druck der Ermittlung tätigen würde, könnte im Lichte später entdeckter Beweise völlig anders interpretiert oder gar gegen sie verwendet werden. Das Schweigen ist in diesem Fall eine Schutzmaßnahme, eine Mauer, die Om Zeit verschafft, um jedes einzelne der Tausenden von Pixeln in diesem digitalen Mosaik zu analysieren.
Die Aufgabe der Verteidigung ist es, sorgfältig, fast chirurgisch vorzugehen. Für jedes Indiz muss eine alternative, plausible Erklärung entwickelt werden. Kann die DNA-Spur auch anders interpretiert werden? Liegt ein Missverständnis bei der digitalen Spur vor? Sind die Zeugenaussagen frei von Vorurteilen? Jede kleine Lücke, jeder noch so kleine Zweifel, den Om säen kann, kann im späteren Prozess entscheidend sein. Hier kämpft das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – die Notwendigkeit, einen rechtsgültigen Beweis zu führen – gegen das intuitive, emotionale Gefühl der Schuld, das in der Stadt Güstrow vorherrscht.

Güstrow: Die dritte Hauptfigur im Drama
Die Stadt selbst fungiert in diesem Drama als eine dritte Hauptfigur, eine Bühne, die mit Trauer, Wut und Angst imprägniert ist. Güstrow ist eine kleine Stadt, in der jeder jeden kennt, in der Emotionen leicht eskalieren und Gerüchte schnell zur unumstößlichen Wahrheit werden. Die emotionalen Spannungen sind greifbar. Die Bürger trauern um Fabian und verlangen eine unmissverständliche Gerechtigkeit.
Om bewegt sich zwischen diesen Emotionen wie auf einem Drahtseil. Er muss sein Mandat als Anwalt erfüllen, ohne die öffentliche Ordnung zu gefährden. Jeder aggressive Schritt der Verteidigung, jede Verzögerung im Prozess, jedes Infragestellen der Beweiskette könnte eine neue Welle der Empörung auslösen. Er balanciert zwischen Recht und Moral, Pflicht und Verantwortung, öffentlicher Meinung und individueller Gerechtigkeit. Die Stadt ist ein Pulverfass, und Om ist sowohl der Anwalt, der das Zündholz in der Hand hält, als auch der Politiker, der für die Sicherheit des Fasses verantwortlich ist. Diese unvermeidliche Kollision von Pflichten macht seine Situation zu einem Lehrstück für alle, die glauben, dass Recht und Moral stets Hand in Hand gehen.
Die Herausforderung ist fundamental: Wie können wir die rechtlichen Prinzipien der Unschuldsvermutung und des fairen Verfahrens wahren, wenn menschliche Gefühle so stark ins Spiel kommen, wenn die Wut so groß ist, dass sie die nüchterne Analyse der Fakten zu ersticken droht? Om verkörpert diesen schmerzhaften Prüfstein des Rechtsstaates.
Ein Prüfstein für Moral, Ethik und Gerechtigkeit
Der Fall Fabian ist mehr als nur ein Gerichtsverfahren; er ist ein Spiegelbild unserer Werte, unserer Ängste und unseres Verständnisses von Gerechtigkeit. Er zwingt uns, über die grundlegendsten Fragen unseres Zusammenlebens nachzudenken: Wie garantieren wir Gerechtigkeit in einer Welt voller Vorurteile und sozialem Druck? Wie können wir das Rechtsprinzip wahren, wenn menschliche Gefühle so intensiv sind?
Andreas Om steht stellvertretend für diese Komplexität. Er ist Anwalt, Politiker und Mensch zugleich, gefangen in einem Spiel, das keine einfachen Antworten kennt. Seine Entscheidungen, die auf den ersten Blick kalt und juristisch erscheinen mögen, sind in Wirklichkeit hochgradig moralisch und ethisch aufgeladen. Er verteidigt nicht nur eine Person; er verteidigt das Prinzip, dass jeder Mensch, unabhängig von der Schwere des Vorwurfs, ein Recht auf eine faire und unabhängige Verteidigung hat.
Das Leiden der Tatverdächtigen, ihr Schweigen, die achtfache Aktenflut und der emotionale Aufruhr in Güstrow sind die Elemente eines Dramas, das weit über das Gericht hinausgeht. Es ist ein Drama, das uns alle fragt: Wie gehen wir als Gesellschaft mit diesem Spannungsfeld um? Wie schützen wir das Recht, ohne die Menschlichkeit – sei es die des Opfers, der Familie oder des Angeklagten – zu verlieren?
Zwischen juristischer Pflicht, politischer Moral und öffentlicher Verantwortung gibt es für Andreas Om keinen einfachen Weg. Doch genau diese Komplexität, dieser unmögliche Spagat, macht den Fall Fabian zu einem der spannendsten, emotional intensivsten und lehrreichsten Kriminalfälle unserer Zeit. Er ist ein notwendiger, wenn auch schmerzhafter, Prüfstein dafür, ob unser Rechtsstaat in der Lage ist, seine Versprechen auch dann einzuhalten, wenn das menschliche Herz am stärksten schmerzt. Om agiert am Rande des gesellschaftlich Zumutbaren, aber genau dort, wo die Integrität unserer Gesetze am meisten verteidigt werden muss.