Panik, Heuchelei und der Domino-Effekt: Warum die CDU-Brandmauer jetzt zerbricht und was der gefährliche Haken an der neuen „Normalität“ ist

Ein Dogma bricht. Eine Gewissheit, die jahrelang das Fundament der deutschen Zentrumspolitik bildete, zerfällt vor aller Augen zu Staub. Die „Brandmauer“ der CDU zur AfD, einst von Friedrich Merz als unumstößliche rote Linie deklariert, hält dem Druck nicht mehr stand. Wie ein Dominoeffekt breitet sich in der Union eine Stimmung der Revolte aus, eine Mischung aus Pragmatismus, Panik und politischem Überlebenswillen. Was wir derzeit erleben, ist nichts Geringeres als ein politisches Erdbeben, dessen Epizentrum im Osten der Republik liegt und das die Statik der gesamten Berliner Politik zu erschüttern droht.

Es sind nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen, nicht nur pensionierte Politiker, die aus der Sicherheit des Ruhestands heraus kluge Ratschläge erteilen. Die Forderung, die Mauer des Schweigens und der Ausgrenzung niederzureißen, kommt jetzt aus dem Herzen der aktiven Politik.

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Der Funke, der das Feuer neu entfachte, kam von Peter Tauber, dem ehemaligen Generalsekretär unter Angela Merkel. Doch die wahre Sprengkraft entfaltet sich erst jetzt, da amtierende Funktionäre nachziehen. Allen voran Andreas Bül, der CDU-Fraktionschef in Thüringen. Ein Mann, der einst mit dafür sorgte, dass die AfD – obwohl stärkste Kraft – bis heute nicht einmal den ihr zustehenden Posten eines Landtagsvizepräsidenten besetzen kann. Ausgerechnet dieser Andreas Bül begrüßt nun öffentlich die von Tauber angestoßene Debatte.

Seine Worte, zitiert in der „Bild“, sind ein politischer Paukenschlag: „Wenn ein Gesetz, das aus sachlichen Erwägungen und nach demokratischer Deliberation für richtig befunden wurde, auch Zustimmung von den politischen Rändern findet, ist das kein Grund mehr zur Revision.“ Er geht sogar noch weiter und wirft seinen eigenen Leuten vor, Moral mit Politik zu verwechseln, wenn man seine Entscheidungen nur davon abhängig mache, von wem der Applaus kommt.

Was Bül hier formuliert, klingt nach staatspolitischer Vernunft. Es ist der Ruf nach einer Rückkehr zur Sachpolitik, einer Abkehr von parteipolitischen Spielchen. Doch Kritiker werfen ihm postwendend eine massive Heuchelei vor. Denn genau dieser Pragmatismus fehlte der Thüringer CDU, als es um die eigene Macht ging. Man regiert in einer Minderheitsregierung, gestützt ausgerechnet von der Linkspartei, während man jede Zusammenarbeit mit der AfD verteufelte. Die Frage, die sich unweigerlich stellt, lautet: Warum jetzt? Warum dieser plötzliche Sinneswandel?

Die Antwort ist so brutal wie einfach: Es ist die pure Angst. Es ist die nackte Panik vor dem totalen Kontroll- und Machtverlust. Ein Blick auf die Umfragen genügt, um das Beben in der CDU-Zentrale nachzuvollziehen. Bundesweit liegt die AfD in gewichteten Umfragen bei 25,7 Prozent – teils als stärkste Kraft. Doch in den östlichen Bundesländern, dort, wo die CDU einst als Volkspartei regierte, sind die Zahlen apokalyptisch für die Christdemokraten. Sachsen-Anhalt meldet 40 Prozent für die AfD, Mecklenburg-Vorpommern 38 Prozent.

Der CDU, so die ungeschminkte Analyse, „schwimmen die Fälle davon“. Es ist die Angst um die eigenen, liebgewonnenen Versorgungsposten, die nun jene Politiker zum Reden bringt, die jahrelang geschwiegen haben. Es dämmert ihnen, dass ein Zeitpunkt kommen könnte, an dem die AfD die CDU schlicht nicht mehr braucht. Ein Szenario, in dem die CDU als Juniorpartner zu Kreuze kriechen müsste – oder gänzlich in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

Der Dammbruch, ausgelöst durch Bül in Thüringen, hat eine Welle losgetreten. Es ist ein Dominoeffekt, der sich vor allem auf der kommunalen und Landesebene zeigt, dort, wo die Ideologie der Berliner Blase auf die harte Realität trifft. Udo Witschas, der CDU-Landrat im sächsischen Bautzen, praktiziert diesen „pragmatischen Umgang“ bereits. Er fordert unumwunden: „Demokratisch gewählte Abgeordnete, egal von welcher Partei, haben die Pflicht zur Verantwortung und das Recht zur Mitbestimmung.“ Er plädiert dafür, die AfD-Abgeordneten „in die Pflicht zu nehmen, statt sie auszugrenzen.“

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Das ist nichts anderes als die offene Aufforderung, die Brandmauer einzureißen. Auch Sachsens CDU-Fraktionschef Christian Hartmann stößt ins gleiche Horn. Die CDU müsse „jenseits von allen Brandmauerdebatten ihre eigene Position finden“. Die Übersetzung dieser Worte ist klar: Wenn ureigene CDU-Politik nur mit Hilfe von AfD-Stimmen möglich ist, dann darf die Umsetzung dieser Politik nicht an der Brandmauer scheitern.

Diese Entwicklung offenbart die ganze Absurdität der bisherigen Blockadepolitik, die von vielen Bürgern längst nur noch als „politischer Kindergarten“ wahrgenommen wird. Es ist ein offenes Geheimnis im politischen Betrieb, wie oft die AfD in den Parlamenten gute und spannende Anträge einbringt, die pauschal von allen anderen Fraktionen abgelehnt werden. Nur um dann, wenige Wochen später, einen nahezu wortgleichen Antrag von der CDU oder der FDP eingebracht zu sehen, der dann plötzlich eine Mehrheit findet. Dieses Verhalten, so Kritiker, sei lächerlich und degradiere den demokratischen Prozess zur Farce.

Das wohl beschämendste Symbol dieser Ausgrenzungspolitik ist das fortwährende Scheitern der AfD, einen Bundestagsvizepräsidenten wählen zu lassen. Seit 2017, seit die Partei im Bundestag sitzt, steht ihr dieser Posten qua demokratischem Recht und parlamentarischer Gepflogenheit zu. Doch in über 50 Wahlgängen fiel jeder einzelne Kandidat der AfD durch.

Man muss sich die Liste der Nominierten ansehen, um die Systematik der Ablehnung zu verstehen. Es waren keine radikalen Schreihälse, die man dort aufstellte. Es waren Berufssoldaten, Buchdrucker, Industriekaufleute, Bankkaufmänner, Lehrer, Polizeibeamte, Diplom-Chemiker, Informatiker, Richter und Anwälte. Eine Bandbreite, die, so die AfD-Perspektive, die gesellschaftliche Mitte repräsentiert und das Narrativ der „Partei der Ewiggestrigen“ Lügen straft. Diese konsequente Verweigerung, der AfD selbst grundlegendste parlamentarische Rechte wie Ausschussvorsitze oder eben Vizepräsidentenposten zuzugestehen, wird von vielen Beobachtern mittlerweile als undemokratisch bewertet.

Die Brandenburger CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig fasst die Kritik zusammen: „Die Brandmauer stärkt nur AfD und Linke. Wir müssen uns inhaltlich mit der AfD auseinandersetzen und nicht noch weiter nach links rücken.“

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Doch warum gewinnt diese Rebellion aus der zweiten und dritten Reihe gerade jetzt so an Fahrt? Warum verfing der Vorstoß von Jens Spahn, einem Politiker aus der ersten Reihe, vor einigen Monaten noch nicht? Die Antwort liegt in der Psychologie der Masse. Jahrelang hatten die Pragmatiker in der CDU Angst. Nicht vor der AfD, sondern vor der Presse und den linken Parteien. Ein Friedrich Merz, so die Analyse, sei von dieser Angst getrieben.

Jetzt aber, da die Forderungen von so vielen Seiten gleichzeitig kommen – von Landräten, Bundestagsabgeordneten, Fraktionschefs –, geht der Einzelne in der Masse unter. Man hat nicht mehr nur einen Jens Spahn, der als einzelner Rufer in der Wüste medial hingerichtet werden kann. Man hat eine Bewegung. Die Angst vor dem medialen Echo ist kleiner geworden als die Angst vor dem endgültigen Absturz bei der nächsten Wahl.

Doch genau hier liegt der Haken. Der große, gefährliche Haken, vor dem Kritiker und Beobachter der Szene warnen. Ist diese plötzliche Öffnung, dieser Ruf nach „Normalität“, wirklich ehrlich gemeint? Ist es ein Sieg der Vernunft?

Oder ist es ein perfides, strategisches Manöver?

Die Befürchtung lautet: Die CDU, in die Ecke gedrängt, versucht nun, den AfD-Wählern ein Friedensangebot zu machen. Man wird, so die Prognose, vielleicht hier einer kleinen Abstimmung zustimmen, dort einen AfD-Politiker in ein Gremium wählen. Man wird Pragmatismus signalisieren, um jene Wähler zu beruhigen, die aus Enttäuschung von der CDU zur AfD gewechselt sind. Die Botschaft soll lauten: „Seht her, wir haben verstanden. Ihr müsst nicht mehr AfD wählen, die CDU ist ja jetzt auch vernünftig.“

Sollte dieser Effekt eintreten und die CDU wieder stärker werden, so die Warnung, wird das Pendel sofort zurückschlagen. Sobald die Macht gesichert ist, werde die CDU zu ihren alten Mustern der Verhinderung und Ausgrenzung zurückkehren. Der Wähler, so die Sorge, würde ein weiteres Mal getäuscht.

Deutschland steht damit an einem Scheideweg. Die Brandmauer, einst ein moralisches Symbol des demokratischen Konsenses, ist zu einer bröckelnden Fassade geworden, hinter der die Panik regiert. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die CDU den Mut zu einer echten inhaltlichen Auseinandersetzung findet oder ob sie lediglich ein zynisches Spiel spielt, um ihre eigene Macht zu retten. Die Wähler, so viel ist sicher, werden dieses Mal sehr genau hinsehen.

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