Es gibt Interviews, die plätschern dahin. Und es gibt Interviews, die schlagen ein wie eine Bombe. Das jüngste Gespräch mit der AfD-Co-Vorsitzenden Alice Weidel gehört unverkennbar zur zweiten Kategorie. Es ist ein politisches Beben, das derzeit in den sozialen Medien viral geht und das politische Berlin bis ins Mark erschüttert. Es ist nicht nur das, was sie sagt, sondern wie sie es sagt – eine kalkulierte Eskalation, ein bewusster Tabubruch, der die Fundamente der Bundesrepublik infrage stellt.
In einem Auftritt, der von Beobachtern als einer ihrer bisher konfrontativsten gewertet wird, zeichnet Weidel das Bild eines dysfunktionalen Staates, legt sich mit der politischen Konkurrenz an und vollzieht eine spektakuläre Kehrtwende bei einer der umstrittensten Figuren ihrer eigenen Partei. Doch der eigentliche Paukenschlag, der Moment, der dieses Interview von alltäglichen politischen Scharmützeln unterscheidet, ist ihr Frontalangriff auf die dritte Gewalt im Staat: die deutsche Justiz.

Der persönliche Affront: Ein Gruß, der nicht erwidert wird
Das Interview beginnt mit einer scheinbar trivialen, aber psychologisch meisterhaft platzierten Anekdote. Angesprochen auf das Verhältnis zur CDU-Fraktion, packt Weidel eine persönliche Geschichte aus. Es gäbe auf den Fluren des Bundestags durchaus ein “freundliches Gegrüße” mit dem einen oder anderen Abgeordneten der Union. Doch dann der gezielte Seitenhieb: “Herr Merz grüßt mich nicht.”
Eine kleine Bemerkung, die jedoch eine gewaltige symbolische Kraft entfaltet. Weidel nutzt diese Beobachtung, um den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz direkt zu diskreditieren. “Da weiß man auch gleich, dass er sich auch nicht richtig benehmen kann”, schiebt sie nach. Das gehöre zu den “Benehmregeln”, die Merz anscheinend nicht beherrsche.
Diese Episode ist weit mehr als nur eine Klage über schlechte Manieren. Es ist ein strategischer Schachzug. Weidel inszeniert sich als diejenige, die trotz politischer Differenzen die menschlichen Anstandsregeln wahrt, während Merz, der Architekt der sogenannten “Brandmauer” gegen die AfD, als arrogant und unhöflich dargestellt wird. Sie zeichnet das Bild einer abgehobenen politischen Klasse, die nicht einmal mehr die Grundregeln des Respekts beherrscht. Für ihre Anhänger ist dies die perfekte Bestätigung ihres Narrativs: “Die da oben” gegen “uns hier unten”. Es ist ein kleiner, aber perfider Stich, der sitzt und der die unüberbrückbare Kluft zwischen der AfD und den etablierten Parteien zementiert.
Die Höcke-Wende: Vom “Fehler” zur totalen Umarmung
Der nächste Akt dieses politischen Dramas ist nicht weniger brisant. Die Reporter konfrontieren Weidel mit ihrer eigenen Vergangenheit, genauer gesagt mit ihrer Beziehung zu Björn Höcke, dem Thüringer AfD-Chef und Wortführer des offiziell aufgelösten, aber ideologisch quicklebendigen “Flügels”. Sie erinnern Weidel daran, dass sie 2017 zu denjenigen gehörte, die Höcke aus der Partei werfen wollten. Sie halten ihr Bilder von heute vor, die eine herzliche Umarmung zwischen den beiden zeigen. Die Frage ist klar: Wer hat sich geändert?
Weidels Antwort ist ein politisches Manöver, das einer 180-Grad-Wende gleichkommt. Sie weicht nicht aus, sie taktiert nicht. Sie kapituliert – oder besser gesagt, sie siegt, indem sie sich unterwirft. Der damalige Parteiausschlussantrag, so Weidel heute, sei “völlig überzogen” gewesen. Mehr noch: “Fehler kann jeder machen.”
Es ist ein erstaunliches Eingeständnis. Weidel distanziert sich nicht von Höcke, sie distanziert sich von ihrer eigenen früheren Distanzierung. Und sie belässt es nicht dabei. Es folgt eine Lobrede auf den Mann, der wie kein anderer für die Radikalisierung der Partei steht. “Der Mann ist bodenständig”, sagt Weidel. “Er ist ein ehemaliger Lehrer. Er ist extrem breiten gebildet. Das gefällt mir an Leuten.” Sie lobt seine Beliebtheit in Thüringen und bezeichnet ihn als “sehr freiheitsdenkenden Mensch”.
Diese Sätze sind von immenser innerparteilicher Bedeutung. Alice Weidel, die oft als das bürgerlich-wirtschaftsliberale Aushängeschild der Partei galt, vollzieht hier die vollständige ideologische Umarmung des national-völkischen Lagers. Es ist das Ende jeglicher Zweideutigkeit. Sie signalisiert der Partei und den Wählern: Die AfD steht geeint hinter Björn Höcke. Die “Brandmauer” mag nach außen hin wackeln, aber intern gibt es keine mehr. Diese Kehrtwende ist ein klares Zeichen, dass die Partei ihren Kurs weiter nach rechts verschiebt und Weidel bereit ist, diesen Kurs als unangefochtene Führerin anzuführen, Schulter an Schulter mit Höcke.
Der Paukenschlag: Generalangriff auf den Rechtsstaat
Der absolute Höhepunkt des Interviews, der Moment, der fassungslos macht und das eigentliche virale Beben auslöst, ist Weidels Generalabrechnung mit der deutschen Justiz. Auslöser ist die Nachfrage der Reporter zu einem Gerichtsurteil, das es erlaubt, Björn Höcke als “Faschist” zu bezeichnen.
Man könnte erwarten, dass Weidel dieser Frage ausweicht, sie als politische Kampagne abtut oder Höcke verteidigt. Sie tut nichts von alledem. Ihre Antwort ist ein direkter Angriff auf die Institution, die dieses Urteil gefällt hat. “Entschuldigung”, beginnt sie, “das, was Gerichte irgendwie von sich geben – also dem kann ich überhaupt gar nichts mehr beimessen.”
Lassen wir diesen Satz für einen Moment wirken. Die Co-Vorsitzende der stärksten Oppositionspartei im Bund (in Umfragen) erklärt öffentlich, dass sie Gerichtsurteilen “keinen Wert” mehr beimisst.
Es ist ein Tabubruch, der die Grundfesten der Gewaltenteilung erschüttert. Doch Weidel ist noch lange nicht fertig. Sie wird persönlich, behauptet, sie selbst sei “auf das Übelste beschimpft” worden und Gerichte hätten dies legitimiert. Und dann legt sie nach und entfaltet ihre eigentliche These: Die deutsche Justiz sei nicht unabhängig.
“Wir haben auch keine unabhängigen Staatsanwaltschaften”, behauptet Weidel. Sie seien “weisungsgebunden” und würden “nur das machen, was die Politik ihnen sagt.” Als Kronzeugen für diese ungeheuerliche Behauptung führt sie den CumEx-Skandal um Bundeskanzler Olaf Scholz an. Der Grund, warum gegen Scholz nie ermittelt worden sei, sei die Abhängigkeit der Staatsanwälte.
Was Weidel hier skizziert, ist nichts Geringeres als das Bild eines “Unrechtsstaates”, in dem die Justiz nur ein verlängerter Arm der Regierung ist. Es ist ein Narrativ, das man sonst aus autokratisch regierten Ländern kennt, nun aber von der Spitze einer deutschen Bundestagspartei propagiert wird.
Auf die Frage, was eine Kanzlerin Weidel ändern würde, hat sie eine klare Antwort: “Unabhängige Staatsanwaltschaften und Gerichte.” Sie geht sogar so weit, das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, anzugreifen. Es könne nicht sein, dass dieses Gericht “mit ehemaligen Politikern besetzt ist, die die Gesetze, über die sie dann urteilen, noch selbst gemacht haben.” Dies sei ein klarer “Interessenkonflikt”. Sie fordert eine Judikative, die die Exekutive “kontrolliert, aber nicht bestätigt”.
Die Tragweite dieser Aussagen ist kaum zu überschätzen. Weidel greift nicht nur eine einzelne Entscheidung an, die ihr nicht passt. Sie stellt die Legitimität und Integrität der gesamten dritten Gewalt in Deutschland infrage. Sie sät gezielt Misstrauen in die Institutionen, die das Fundament der Demokratie bilden. Es ist die Rhetorik einer Systemopposition, die nicht mehr nur die Politik, sondern den Staat selbst als Gegner betrachtet.
Ein kalkuliertes Beben
Dieses Interview ist kein Ausrutscher. Es ist eine sorgfältig inszenierte Machtdemonstration. Alice Weidel präsentiert sich als eine Frau, die keine Kompromisse mehr macht. Sie attackiert die CDU (Merz), umarmt den radikalsten Flügel der eigenen Partei (Höcke) und zielt auf das Herz der Demokratie (die Justiz).

Sie bedient damit perfekt die Emotionen ihrer Anhängerschaft, die sich seit langem als Opfer eines “Systems” sieht. Indem sie die Unabhängigkeit der Gerichte leugnet, liefert sie die ultimative Rechtfertigung für jeden AfD-Anhänger, sich über Gesetze und Urteile hinwegzusetzen, die einem nicht passen. Wenn die Gerichte “eh nur machen, was die Politik sagt”, warum sollte man ihre Entscheidungen dann respektieren?
Der Schaden, der durch solche Aussagen angerichtet wird, ist immens. Es ist eine bewusste Delegitimierung des Rechtsstaates. Weidel weiß genau, welche Knöpfe sie drückt. Sie weiß um die virale Wucht solcher Tabubrüche. In einer Zeit, in der die politische Auseinandersetzung immer emotionaler und polarisierter wird, gießt sie pures Öl ins Feuer.
Das Interview hinterlässt ein Land, das noch gespaltener ist als zuvor. Es zeigt eine AfD-Chefin, die bereit ist, alle Brücken abzubrechen und auf totale Konfrontation zu setzen. Die Masken sind gefallen. Es geht nicht mehr um Korrekturen an der Politik, es geht um das System selbst. Die Frage, die nach diesem Auftritt im Raum steht, ist beklemmend: Wenn die Gerichte keinen “Wert” mehr haben, was kommt dann?