In den stillen, von Weinbergen gesäumten Hügeln der Republik Moldau, einem kleinen Land, das oft im Schatten seiner größeren Nachbarn übersehen wird, spielte sich eine Entscheidung von monumentaler Tragweite ab. Die Parlamentswahl an diesem Sonntag war weit mehr als ein routinemäßiger demokratischer Prozess; sie war ein Referendum über die Seele und Zukunft der Nation. Die Frage, die über den Wahllokalen schwebte, war so einfach wie existenziell: Wird Moldau seinen entschlossenen Marsch in Richtung Westen fortsetzen und eine vollständige Integration in die Europäische Union anstreben, oder wird es von den starken Strömungen aus dem Osten erfasst und zurück in die Einflusssphäre Russlands gezogen?
Für Präsidentin Maia Sandu und ihre pro-europäische Partei der Aktion und Solidarität (PAS) war dieser Tag der Höhepunkt eines jahrelangen Kampfes gegen Korruption und für eine tiefgreifende Transformation des Landes. Seit ihrem Amtsantritt hat Sandu, eine in Harvard ausgebildete Ökonomin, Moldau auf einen unmissverständlich pro-westlichen Kurs gesteuert. Ihr größter Triumph war die Erlangung des EU-Beitrittskandidatenstatus im Jahr 2022, ein historischer Meilenstein, der die Hoffnungen vieler Moldauer auf eine Zukunft in Wohlstand, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit nährte. Doch die absolute Mehrheit, die ihre Partei im Parlament innehatte und die für die Umsetzung der anspruchsvollen EU-Reformen unerlässlich ist, stand auf Messers Schneide.
Die Atmosphäre im Vorfeld der Wahl war von einer spürbaren Anspannung geprägt. Die Regierung in Chișinău erhob schwere Vorwürfe gegen Russland und beschuldigte den Kreml, eine aggressive und vielschichtige Kampagne der Einmischung zu führen. Es war die Rede von Desinformation, der Finanzierung kremlfreundlicher Parteien und der Anstiftung zu Unruhen, um das Land zu destabilisieren und vom europäischen Weg abzubringen. “Das Ziel des Kremls ist klar”, erklärte Präsidentin Sandu mit ernster Miene in einer Fernsehansprache an die Nation. “Sie wollen Moldau einfangen, es gegen die Ukraine benutzen und uns zu einer Startrampe für hybride Angriffe auf die Europäische Union machen.” Diese Worte hallten wider in einem Land, das die geopolitische Realität seiner Lage nur allzu gut kennt – eingeklemmt zwischen dem EU- und NATO-Mitglied Rumänien und der vom Krieg zerrissenen Ukraine.
Die Maßnahmen der Regierung waren drastisch. Kurz vor dem Wahltag wurden zwei als russlandfreundlich geltende Parteien von der Teilnahme ausgeschlossen. Zuvor waren über hundert Personen festgenommen worden, denen vorgeworfen wurde, als Agenten im Dienste Moskaus zu agieren. Diese Schritte sollten die Souveränität des Wahlprozesses schützen, lieferten der Opposition jedoch Munition für den Vorwurf der politischen Unterdrückung. Der Führer der Sozialisten, die gemeinsam mit anderen Parteien den “Patriotischen Block” bilden, sprach von Einschüchterung und einem Angriff auf die Demokratie. “Wir müssen eine klare Botschaft senden, dass wir nicht vergessen, was Maia Sandu heute gegen unsere Kollegen unternommen hat”, verkündete er kämpferisch. “Was die Macht heute tut, muss uns nur stärker und entschlossener machen.”
Dieser Konflikt spiegelte die tiefe Spaltung wider, die durch die moldauische Gesellschaft verläuft. Auf den Straßen von Chișinău, in den Dörfern und Städten im ganzen Land, gingen die Meinungen weit auseinander. Für die einen war der Weg nach Europa die einzige logische Konsequenz aus der Geschichte und Geografie des Landes. Sie sahen in der EU ein Versprechen auf Modernisierung, auf ein Ende der allgegenwärtigen Korruption und auf eine Zukunft, in der ihre Kinder die gleichen Chancen haben wie junge Menschen in Berlin, Paris oder Warschau. “Ich gehe wählen, weil es notwendig ist. Es geht um die Zukunft unseres Landes, unserer Jugend”, sagte eine Frau mittleren Alters, nachdem sie ihre Stimme abgegeben hatte. “Ich wähle den europäischen Weg, weil sich die Dinge ändern, seit Maia Sandu an der Macht ist.”
Auf der anderen Seite standen jene, die mit Nostalgie auf die sowjetische Vergangenheit blickten oder aus pragmatischen Gründen eine enge Beziehung zu Russland befürworteten. Sie erinnerten an die historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bande und warnten vor einer Entfremdung von einem mächtigen Nachbarn. “Die Freundschaft mit Russland kennen wir schon, aber was würde in der EU passieren?”, fragte ein älterer Mann skeptisch. “Die Moldauer braucht anscheinend keiner. Ein armes Land. Was hätte die EU von uns?” Diese Skepsis wurde von pro-russischen Medienkanälen befeuert, die ein Bild von einem dekadenten Westen malten, der Moldau seine Werte aufzwingen wolle, während Russland als verlässlicher Partner dargestellt wurde.
Die wirtschaftliche Lage des Landes goss zusätzlich Öl ins Feuer. Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas, stark abhängig von Energieimporten und den Überweisungen seiner Bürger, die im Ausland arbeiten. Die Inflation und die steigenden Energiepreise infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben viele Familien hart getroffen und die Unzufriedenheit mit der Regierung geschürt. Die Opposition nutzte diese Sorgen geschickt aus und versprach niedrigere Gaspreise und eine Wiederbelebung der Handelsbeziehungen mit Russland.
Die internationale Gemeinschaft beobachtete die Wahl mit Argusaugen. Die Unterstützung aus Europa war stark und sichtbar. Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, begleitet vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, anlässlich des Unabhängigkeitstages war ein klares Signal der Solidarität. Brüssel hat Moldau nicht nur den Kandidatenstatus verliehen, sondern auch erhebliche finanzielle Unterstützung bereitgestellt, um das Land bei der Bewältigung der Energiekrise und bei der Umsetzung von Reformen zu unterstützen. Doch alle wussten: Die letztendliche Entscheidung liegt bei den moldauischen Wählern.
Das Ergebnis der Wahl würde darüber entscheiden, wie es mit dem EU-Beitrittsprozess weitergeht. Ein Verlust der absoluten Mehrheit für die PAS würde die Gesetzgebung erschweren und könnte zu politischer Instabilität führen. Eine Koalition mit pro-russischen Kräften schien unwahrscheinlich, aber eine fragmentierte Opposition könnte die Regierung lähmen und den Reformprozess verlangsamen, wenn nicht gar zum Erliegen bringen.
Als die Wahllokale schlossen und die Auszählung der Stimmen begann, hielt das ganze Land den Atem an. Die Wahl in Moldau war mehr als nur eine politische Richtungsentscheidung. Sie war ein Kampf um Identität, ein Ringen um die Zukunft in einer Welt, die von geopolitischen Spannungen erschüttert wird. Das Ergebnis wird nicht nur das Schicksal von zweieinhalb Millionen Menschen bestimmen, sondern auch ein entscheidendes Signal an Brüssel und Moskau senden – ein Signal darüber, ob sich der Einflussbereich Europas nach Osten ausdehnt oder ob der Schatten des Kremls erneut über dieses kleine, aber strategisch wichtige Land fällt.