Das giftige Echo der 70er und 80er: Wie Alkohol die größten deutschen Musiklegenden in den Abgrund riss und eine ganze Industrie zusah
Einleitung: Der heimliche Taktgeber hinter dem Rampenlicht
Die Ära der 70er und 80er Jahre in Deutschland war eine musikalische Explosion, ein Jahrzehnt, das von der Sehnsucht nach Eskapismus und einem unbändigen Hunger nach Unterhaltung geprägt war. Von den weichen Klängen des Schlagers, die die Illusion einer heilen Welt aufrechterhielten, bis zum donnernden Aufschrei des Deutschrocks lieferte diese Zeit Idole, die das kollektive Lebensgefühl einer Nation prägten. Doch hinter der schillernden Fassade, abseits der ausverkauften Hallen und der goldenen Schallplatten, gab es einen geheimen Taktgeber, dessen Sound nicht auf Vinyl gepresst wurde, sondern im unaufhörlichen Klirren der Gläser hallte. Alkohol war nicht nur ein Begleiter; er war Treibstoff, Mythos und, schlimmer noch, ein akzeptiertes Geschäftsprinzip, das die düstere Realität hinter der Bühne dominierte.
Die jetzt zutage tretenden, schonungslosen Geschichten der größten deutschen Musiklegenden dieser Zeit sind eine unbequeme Anklage. Sie führen uns in die dunklen Ecken der Unterhaltungsindustrie, wo Manager und Plattenbosse oft bewusst wegschauten oder sogar die Gläser nachfüllten, solange die Stars „funktionierten“ und die Kassen klingelten. Alkohol schien der unsichtbare Motor zu sein, der die Maschinerie am Laufen hielt. Diese Erzählung ist keine bloße Suche nach Opfern, sondern eine fundamentale Infragestellung unserer eigenen Rolle als Konsumenten. Haben wir den Rausch beklatscht, weil er uns die Musik lieferte, die wir hören wollten? War die Sehnsucht des Publikums nach der perfekten Illusion der Schlagerwelt die eigentliche Brandbeschleuniger für die persönliche Hölle der Künstler? Diese Reise in die Vergangenheit zwingt uns, das Vermächtnis unserer Idole und die Mitschuld der Gesellschaft an ihrer Tragödie neu zu bewerten.

Der goldene Käfig des Schlagers: Die Zerstörung der Illusion
Der Schlager der 70er und 80er Jahre war eine perfekt konstruierte Traumwelt, deren Architektur auf makelloser Perfektion beruhte. Niemand verkörperte diese heile Illusion besser als Roy Black (Gerhard Höllerich). Mit Balladen wie „Ganz in Weiß“ verkaufte der „Golden Boy“ die Illusion an Millionen. Ein millionenschweres Imperium, aufgebaut auf einem streng bewachten, sauberen Image. Doch die Wirklichkeit, in die Höllerich privat floh, war zutiefst düster: Ein lebenslanger Kampf gegen schwere Depressionen und eine unaufhaltsame Alkoholsucht, die ihn innerlich zerfraß. Der Mann, der vom großen Glück sang, war ein zutiefst unglücklicher Mensch, dessen Zerfall unaufhaltsam voranschritt.
Die Tragödie Roy Blacks wirft die Frage nach der gnadenlosen Kalkulation der Industrie auf: Wurde der kranke Mensch Gerhard Höllerich zum akzeptierten „Kollateralschaden“ für den Erfolg des Produkts „Roy Black“? Sein plötzlicher Tod in einer Fischerhütte im Jahr 1990, offiziell durch Herzversagen, aber später durch Berichte über einen extrem hohen Blutalkoholwert überschattet, zerschmetterte die Reste des sauberen Images. Sein Leben bleibt das ultimative Paradoxon: Seine Musik weckt bis heute nostalgische Glücksgefühle, doch sein Schicksal ist eine düstere Mahnung an den menschlichen Preis dieser fabrizierten Heiterkeit. Die unbequeme Wahrheit lautet: Die Sehnsucht seines Publikums nach einer perfekten Welt trug möglicherweise zu seiner persönlichen Hölle bei.
Ähnlich unerbittlich war der Druck auf Rex Gildo, den Meister der Selbstinszenierung. Über drei Jahrzehnte strahlte der „ewige Sunny Boy“ mit Hits wie „Fiesta Mexicana“ pure Energie und gute Laune aus, ein Garant für Eskapismus. Doch seine öffentliche Identität war eine komplette Fiktion. Gildo war homosexuell und lebte in einer geheimen, jahrzehntelangen Beziehung mit seinem Manager. Um die Wahrheit zu verbergen, ging er sogar eine Scheinehe ein. Sein Leben war ein permanenter Balanceakt zwischen der lauten Bühnenfigur und dem stillen Privatmann, geplagt von der ständigen Angst vor Enthüllung. Die Frage ist hier die nach der Mitschuld: Er profitierte finanziell von der Illusion, die er verkaufte, während er menschlich daran zerbrach. Die Berichte über angetrunkene Auftritte in den 90ern waren der lange angekündigte Absturz. Sein Sprung aus dem Fenster im Jahr 1999 war das tragische, aber fast schon erwartete Ende einer langen Selbstzerstörung, die eine vernichtende Anklage gegen die Heuchelei einer gesamten Branche darstellt, die einen Menschen dazu zwang, ein ganzes Leben lang eine Lüge zu leben.
Mythos Exzess: Wenn Rebellion zur Krankheit stilisiert wird
Im Gegensatz zur verlogenen Schlagerfassade gab es jene Künstler, bei denen der Rausch nicht versteckt, sondern offen zur Schau gestellt wurde – als integraler Bestandteil des Rock-and-Roll-Mythos.
Udo Lindenberg, der „Panikpräsident“ und Erfinder des Deutschrocks, machte den Alkohol zum Markenzeichen. Sonnenbrille, Zigarre und Eierlikör – der Rausch war bei ihm kein dunkles Geheimnis hinter der Bühne, sondern stand oft mit ihm im Rampenlicht. Die deutsche Öffentlichkeit verharmloste seinen Alkoholismus über Jahre hinweg als „liebenswerte Marotte eines Genies“, stilisierte die Krankheit zum Teil des Panik-Stils. Doch dieser gefährliche Mythos wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Erst ein fast tödlicher Absturz Ende der 90er zwang ihn zum Umdenken. Lindenbergs Geschichte ist ein komplexes Vermächtnis: Einerseits das beste Beispiel für die gefährliche Verklärung von Alkohol im Rock-Mythos, andererseits eine kraftvolle Botschaft der Hoffnung durch seinen späteren Erfolg als trockener Alkoholiker. Dennoch bleibt die Frage, ob sein früheres Image nicht unzähligen jungen Musikern ein fatales Vorbild geliefert hat.
Weitaus tragischer endete der Weg von Rio Reiser, der als Stimme der linksliberalen Protestbewegung (Ton Steine Scherben) zum Poeten der Revolution wurde. Der Spagat zwischen seiner Rolle als kompromissloser Rebell und seinem späteren Leben als Popstar zermürbte ihn. Biografien enthüllten nach seinem Tod, wie er zunehmend mit Alkohol- und Drogenproblemen kämpfte, die zur Flucht wurden. Sein Tod 1997 im Alter von nur 46 Jahren durch Kreislaufversagen infolge seiner Sucht wurde oft als „Dichtertod“ romantisiert, ähnlich wie bei Jim Morrison. Diese Überhöhung verschleiert die Realität einer Krankheit, indem sie dem sinnlosen Sterben einen höheren Sinn verleiht – ein verführerischer Narrativ, der die Selbstzerstörung unserer Idole bewundert, weil sie ihre Legende interessanter macht.

Der hohe Preis der „Authentizität“ und das Marketing der Misere
Für manche Stars war der exzessive Lebensstil nicht nur Image, sondern ein ungeschminktes Bekenntnis, das am Ende zur Katastrophe führte. Kevin Russell, der Frontmann der Böhsen Onkelz, lebte den permanenten Rausch aus Alkohol und Drogen als Teil des ultimativen Rock-and-Roll-Rebellions-Images. Die Sucht wurde nicht als Laster, sondern als Ausdruck von Authentizität gefeiert. Doch der Mythos zerbrach an Silvester 2009, als Russell unter massivem Einfluss einen schweren Autounfall mit Fahrerflucht verursachte. Die Rebellion wurde zum Verbrechen, der Rock-Star zum Straftäter. Sein Fall ist das extremste Beispiel dafür, wie die Romantisierung von Drogen und Alkohol als Teil von Rebellion in einer brutalen Realität enden kann. Er stellt die radikale Frage, ob die Faszination für das Böse eine Grenze hat und ob diese erst erreicht wird, wenn Unschuldige zu Schaden kommen.
Gunter Gabriel war der deutsche „Trucker-Poet“, der Sänger der kleinen Leute, der nicht nur über ein hartes Leben sang, sondern es auch lebte. Seine Sucht, seine Schuldenberge und seine Abstürze wurden ein offener, zelebrierter Teil seiner öffentlichen Kunstfigur. Die zentrale, zynische Frage: Hat Gabriel seine Sucht irgendwann bewusst als Marketinginstrument eingesetzt, um im Gespräch zu bleiben, als die musikalischen Erfolge ausblieben? Der „authentische Absturz“ wurde zu seiner letzten verbliebenen Rolle – ein Geschäftsmann, der seine eigene Legende ausschlachtete, selbst als er in Reality-Formate wie das Dschungelcamp zog. Seine Geschichte ist ein extremes Beispiel für die Vermarktung von Authentizität.
Auch der Fall von Drafi Deutscher ist ein extremes Beispiel für die gnadenlose Moralvorstellung seiner Zeit. Als musikalisches Wunderkind war er von Anfang an provokant und unberechenbar. Sein exzessiver Lebensstil endete im sogenannten „Balkonskandal“ von 1967, als er betrunken von einem Balkon in die Öffentlichkeit urinierte. In der prüden Adenauer-Ära war dieser Tabubruch unverzeihlich. Der Alkohol war hier nicht die Ursache für eine schleichende Tragödie, sondern der Auslöser für eine öffentliche Hinrichtung durch eine heuchlerische Gesellschaft, die einen unbequemen Künstler exemplarisch bestrafte und mundtot machte.
Zwischen öffentlichem Kampf und kühler Kalkulation
Manche Schicksale wurden zu nationalen Obsessionen, zu einem Spiegelbild der zwiespältigen Beziehung der deutschen Gesellschaft zu Ruhm und Voyeurismus. Harald Juhnke, der größte Entertainer des Nachkriegsdeutschlands, kämpfte seinen permanenten Kampf gegen den Alkohol in aller Öffentlichkeit. Seine „Abstürze“ füllten die Titelseiten, seine Entzüge wurden zu Medienserien. Die unangenehme Frage, die sein Fall aufwirft: Hat Deutschland seinen größten Entertainer zu Tode geliebt? Die Faszination für seine Abstürze – die Mischung aus Mitleid und Sensationslust – war auch eine Form der Mittäterschaft. Juhnkes Ende, gezeichnet von den unumkehrbaren Folgen des Alkohols, war das leise, letzte Kapitel einer lauten, nationalen Tragödie, das die Gesellschaft mit ihrer eigenen Gier nach Sensation konfrontiert.
Im Gegensatz dazu stehen jene, die aus dem Abgrund zurückkehrten und die Geschichte ihres Kampfes zu einem neuen Kapitel ihrer Karriere machten. Peter Maffay, eine Ikone der Verlässlichkeit, offenbarte erst spät in seiner Biografie seine schwere Alkoholikerphase in den späten 70ern und 80ern, in der er täglich zwei bis drei Flaschen Whisky trank. Indem er seine Geschichte als gewonnenen Kampf erzählte, wurde er zum „Überlebenden“ und verlieh seiner Persona eine neue, dramatische Tiefe. Die späte Beichte war nicht nur Katharsis, sondern auch eine brillante strategische Kommunikation: Der Kampf und der Triumph boten eine perfekte Geschichte, die das Image nicht beschädigte.
Auch Nino de Angelo, dessen Karriere seit „Jenseits von Eden“ ein endloses Auf und Ab war, etablierte den Zyklus aus Absturz und öffentlicher Buße als Teil seiner Marke. Die schonungslose Offenheit über seine Dämonen – Spielsucht, Schulden, Krebs, Alkohol und Drogen – wirft die provokante Frage auf, ob der Künstler am Ende nicht am interessantesten wird, der am spektakulärsten scheitert und seine Tragödie öffentlich vermarktet. Die Comeback-Story nach einem Tiefpunkt erzeugt oft so viel mediale Aufmerksamkeit wie ein neuer Hit.
Der Liedermacher Konstantin Wecker wiederum machte seine eigene Zerrissenheit und Verletzlichkeit zum Zentrum seiner Kunst. Seine wiederkehrenden Süchte, darunter schwere Alkoholabhängigkeit, waren für ihn eine Flucht vor der eigenen Empfindsamkeit. Weckers radikale Offenheit erhöht seine Authentizität als Poet des Schmerzes: Das Leiden wird zur Bestätigung des Genies. Die Frage, die seine Geschichte hinterlässt, ist jedoch, wo die Grenze verläuft zwischen einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit und einer Inszenierung des Leidens, die den kommerziellen Wert steigert.
Und schließlich Campino von den Toten Hosen: Ihre Exzesse waren Teil ihrer Punkrock-DNA. Doch der spätere Entschluss, den Alkoholkonsum radikal zu kontrollieren, war kein dramatischer Absturz, sondern ein schleichender Prozess der Professionalisierung. Die Entscheidung, den Rausch zu kontrollieren, war notwendig, um das hohe Niveau der Shows und die Langlebigkeit der Karriere sichern zu können. Es war der Moment, in dem der Geschäftsmann über den Punkrocker siegte – ein Beweis dafür, dass wahrer Punkrock am Ende auch darin bestehen kann, die Kontrolle über die eigene Marke zu behalten.
Fazit: Das Echo des zerbrechenden Glases
Die Geschichten von 14 Legenden, Hunderte von Hits, Millionen Liter Alkohol. Die Musik einer Generation wurde im Rausch geschrieben. Das System, das diese Stars hervorbrachte, hat sie selten zur Rechenschaft gezogen, sondern war stattdessen damit beschäftigt, die nächste Legende für den Applaus zu erschaffen.
Nehmen wir abschließend G. G. Anderson, der erst Jahre nach seiner größten Erfolgswelle über sein exzessives Trinken sprach, um sein Image zu vertiefen, oder Werner Böhm („Gottlieb Wendehals“), dessen alberne Figur zur kommerziellen Hülle seiner privaten Alkohol- und Drogensucht wurde, die in Armut endete. Ihre Schicksale sind die tragische Wahrheit: Der Kontrast zwischen der gespielten oder der verkauften Fröhlichkeit und der realen, düsteren Sucht war extrem.
Wenn wir heute diese Lieder hören, schwingt das Echo der Selbstzerstörung mit. Die unbequemste Frage richtet sich an uns selbst: Haben wir als Fans diesen Mythos gefördert, indem wir die Realität ignorierten? Können wir ihre Musik jemals wieder hören, ohne den bitteren Beigeschmack der Wahrheit, den Klang des zerbrechenden Glases im Hintergrund? Die Geschichten sind vorbei, doch die Industrie sucht bereits nach neuen Helden für den Applaus – und neuen Opfern für den Absturz. Es liegt an uns, die Musik leiser zu drehen, wenn morgen ein neues Genie auftaucht, das beginnt, sich selbst zu zerstören, anstatt wieder nur den Applaus für die Tragödie zu liefern.