Die Leise Wahrheit des Schreckens: Der rätselhafte Pickup und der Schatten des vierten Mannes im Mordfall Fabian (8)
REIMERSHAGEN/GÜSTROW. Es sind jene Fälle, die das kollektive Gedächtnis einer Region für immer prägen, die eine Decke aus Fassungslosigkeit über ganze Dörfer legen. Der Mord an dem achtjährigen Fabian aus dem beschaulichen Reimershagen (Mecklenburg-Vorpommern) ist ein solcher Fall. Was zunächst wie eine tragische Tat mit einer klaren, wenn auch erschütternden Hauptverdächtigen schien, entpuppt sich nun als ein Labyrinth aus Verrat, Lügen und einer schockierenden Wendung, die die gesamte Ermittlungsarbeit der Polizei auf den Kopf stellt. Die beschlagnahmten Beweismittel – ein kupferfarbener Pickup und zwei Paar Sportschuhe – erzählen eine Geschichte, die wesentlich düsterer ist als angenommen. Es ist die Geschichte eines vierten, unbekannten Mannes, der Fabian in den Tod fuhr.

Das Morgengrauen der Gewissheit
Am vergangenen Morgen herrschte in der Dorfstraße von Reimershagen eine gespenstische Stille, nur unterbrochen vom knirschenden Kies unter den Reifen der Einsatzfahrzeuge. Um 5:58 Uhr schlugen die Beamten zu, um das kleine Einfamilienhaus von Sandra K. (34) zu durchsuchen, der Ex-Freundin von Fabians Vater, die wenige Tage zuvor unter Schock die Leiche des Jungen am Ufer eines Weihers bei Kleinupal entdeckt haben will. Die Anwohner beobachteten in der kalten Morgenluft, wie die Ermittler in weißen Schutzanzügen das Haus betraten und kurz darauf mit sorgfältig versiegelten, nummerierten Plastiktüten zurückkehrten.
Unter den beschlagnahmten Gegenständen befanden sich zwei Paare von Turnschuhen – ein scheinbar banales Detail, das sich als der vielleicht wichtigste Schlüssel im gesamten Fall erweisen sollte. Ein Paar, weiße Nike-Sportschuhe in Größe 38, trug getrockneten Schlamm von der Fundstelle Fabians. Das zweite Paar, grau und stark verschlissen, wies beunruhigende Brandspuren auf. Forensiker untersuchen die Schuhe nun akribisch auf DNA, Rußpartikel und mikroskopische Rückstände. Die Hoffnung der Ermittler: endlich den zeitlichen Ablauf rekonstruieren zu können und zu beweisen, dass die mutmaßliche Täterin am Tatort war. Was sie jedoch später auf den Sohlen fanden, sollte diese zeitliche Rekonstruktion völlig über den Haufen werfen.
Der Pickup: Ein stiller Zeuge der Grausamkeit
Während die Spurensicherung im Haus lief, rollte ein Abschleppwagen auf den Hof. Sein Ziel: ein kupferfarbener Ford Ranger Pickup, Baujahr 2018, zugelassen auf Sandra K. Nachbarn erinnern sich an eine Szene am Tag des Verschwindens, die nun in neuem, unheilvollem Licht erscheint: Sandra K. habe den Wagen zweimal gewaschen, stundenlang, nervös, immer wieder um sich blickend. „Ich dachte, sie macht Frühjahrsputz, aber sie war nervös“, erzählte eine Nachbarin.
Der Pickup, der nun im kriminaltechnischen Institut in Rostock komplett zerlegt wird, offenbarte makabre Funde im Inneren, die kaum Raum für Zweifel an seiner Rolle als Tatfahrzeug lassen:
- Eine Decke mit Brandspuren: Möglicherweise verwendet, um das Opfer zu transportieren oder die Verbrennungsversuche zu kaschieren.
- Eine halb geschmolzene Kinderflasche: Ein zutiefst persönliches Detail, das die Nähe des Kindes zum Fahrzeug untermauert.
- Rückstände von Wachs und Ruß: Perfekt passend zu der späteren Feststellung der Gerichtsmedizin, dass der Leichnam Fabians amateurhaft mit Kerzenwachs und Papiertüchern verbrannt wurde – ein Akt der Panik, nicht der professionellen Spurenbeseitigung.
- Eine helle Faser: Gefunden an der Innenseite der Fahrertür, die ersten Tests zufolge von Fabians Schlafanzug stammen könnte.
Ein Ermittler fasste es leise zusammen: „Wenn sich das bestätigt, war Fabian in diesem Wagen – tot oder lebendig.“ Die offizielle Bestätigung folgte prompt: Das Fahrzeug wurde beschlagnahmt, um zu prüfen, ob Fabian darin transportiert wurde.
Die Rekonstruktion eines Albtraums
Die Ermittler rekonstruierten minutiös den mutmaßlichen Tattag, den Freitag, den 10. Oktober. Fabian, krank, blieb zu Hause auf der Schwerer Straße. Gegen 11:00 Uhr sah ihn eine Nachbarin zuletzt am Fenster winken. Die Spur des Jungen verliert sich ab etwa 11:15 Uhr, dem Zeitpunkt, zu dem Sandra K. vermutlich mit einem Ersatzschlüssel am Haus ankam. Die Theorie: Sie lockte Fabian mit dem Versprechen, seinen Vater zu überraschen, und verließ unbemerkt mit ihm das Haus.
Der grausame Kontrast: Vier Tage später, am 14. Oktober um 6:30 Uhr, meldete dieselbe Frau den Fund der Leiche. War es Reue, der Versuch, den Verdacht abzulenken, oder der verzweifelte Akt einer Person, die die Kontrolle verloren hatte? Die Gerichtsmediziner bestätigten, dass Fabian noch am Tag seines Verschwindens getötet wurde. Die Brandspuren an seinem Körper deuten auf einen nachträglichen, unprofessionellen Versuch hin, Beweise zu vernichten. Ein forensischer Experte deutete dies als „emotionale Eskalation, gefolgt von Panik“ – ein Bild, das auf die labilen Zustand von Sandra K. hinzuweisen schien.
Der verzweifelte Hilfeschrei aus dem Keller
Tief in Sandras Keller stießen die Ermittler auf einen weiteren rätselhaften Fund: eine kleine Metallkiste. Darin ein altes Foto von Fabian und seinem Vater – und ein USB-Stick. Auf diesem Stick befand sich eine Sprachnachricht, aufgenommen am 10. Oktober um 11:43 Uhr, mutmaßlich von Sandra K.: „Ich wollte das nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll… aber jetzt ist es passiert. Er schaut mich an, als wüsste er es. Bitte, vergeb mir.“
Ein Psychologe, der die Aufnahme analysierte, sprach von einer Frau, die aufgelöst klang, ohne klare Schuldabsicht, eher im Schockzustand. Er deutete an, Sandra K. könnte in einem Moment des Kontrollverlustes, „fast wie in Trance“, gehandelt haben. Diese Botschaft des tiefsten menschlichen Versagens und der panischen Reue verfestigte das Bild einer emotional überforderten Einzeltäterin.
Die Schockwende: DNA des unbekannten Mannes
Doch genau in dem Moment, als sich die Beweiskette gegen Sandra K. unumstößlich zu schließen schien, öffnete eine neue Spur eine völlig andere Dimension. Am Donnerstagabend durchsuchten Kriminaltechniker den Pickup erneut – und machten einen bahnbrechenden Fund. Unter der Rückbank entdeckten sie männliche DNA, die keinem der bekannten Akteure zugeordnet werden konnte: nicht Fabian, nicht Sandra, und auch nicht dem Vater. Die logische Schlussfolgerung: eine vierte Person, ein Mittäter oder ein völlig neuer Verdächtiger.
Diese Erkenntnis passte plötzlich zu einem schockierenden Detail der beschlagnahmten Turnschuhe. Inoffiziell wurde bekannt, dass die Schuhe zwei verschiedene Abdrücke aufwiesen: den kleineren, weiblichen von Sandra K., und einen zweiten, deutlich größeren, männlichen Schuhabdruck. Wer war dieser zweite Mensch am Tatort, dessen Fußabdruck nun in den Schlamm der Fundstelle eingebrannt schien? Hatte Sandra K. Hilfe bei der Tat oder der Vertuschung? Oder wurde sie von jemandem benutzt, den sie liebte?
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Das Unwiderlegbare Alibi des Pickups
Der größte Schock sollte jedoch aus dem Inneren des Tatfahrzeugs selbst kommen. In einem internen Bericht tauchte ein bisher unbekannter Vermerk auf, der das gesamte bisherige Narrativ des Falles ad absurdum führte: Die GPS-Daten des Pickups wurden ausgewertet. Diese Daten zeigten, dass das Fahrzeug bereits um 10:47 Uhr – also lange vor Sandra K.s angeblicher Ankunftszeit um 11:15 Uhr – an Fabians Haus in Reimershagen Halt machte.
Noch erschütternder: Die dazugehörigen Telefondaten verrieten, dass der Fahrer zu dieser Zeit männlich war.
Plötzlich ist die gesamte Rekonstruktion Makulatur. Der Pickup war zu einer Zeit am Tatort, als Sandra K. laut Zeugenaussagen und der eigenen Ermittlung noch nicht dort hätte sein dürfen. Er wurde von einem Mann gefahren.
Diese unumstößliche Kette von Beweisen – männliche DNA, männlicher Schuhabdruck, männlicher Fahrer des Tatfahrzeugs und ein Alibi-bruch für Sandra K. – wirft die eine alles dominierende Frage auf: Was, wenn alles anders ist?
Die Rolle des Vaters im Zwielicht
Die Polizei schweigt offiziell zu diesen internen Wendungen. Doch in Ermittlerkreisen heißt es, der Fokus richte sich erneut auf Fabians Vater. Seine Handydaten seien widersprüchlich, seine Alibis lückenhaft. Der Verdacht drängt sich auf: Wusste er mehr? War er in das makabre Komplott verstrickt, wie die Äußerung eines Ermittlers nahelegt, dass er „Dinge wusste, die nur der Täter wissen konnte“?
Die Hypothese, dass Sandra K. möglicherweise gar nicht die Täterin war, sondern eine Zeugin, die zu viel wusste, oder gar bewusst als Ablenkungsmanöver und Sündenbock aufgebaut wurde, gewinnt an Plausibilität. Ihre aufgelöste Sprachnachricht könnte weniger ein Schuldeingeständnis, als vielmehr ein verzweifelter Aufschrei des Schocks und der Angst über das sein, was sie gesehen hat.
Die Stadt Güstrow hält den Atem an. Auf den Blumen und Plüschtieren am Tatort liegt nun nicht nur Trauer, sondern auch Wut und Angst. Solange der zweite, der männliche Fußabdruck nicht identifiziert ist, solange nicht klar ist, wer der Fahrer des Pickups war, der Fabian in den Tod brachte, ist niemand in Reimershagen wirklich sicher. Die Ermittlungen im Mordfall Fabian führen in einen dunklen Abgrund – und alles deutet darauf hin, dass die vermeintliche Täterin nur das erste Opfer eines viel größeren und schockierenderen Verbrechens war. Die Ergebnisse des Bundeskriminalamts, wohin die Beweisstücke nun zur weiteren Untersuchung übergeben wurden, werden mit fieberhafter Spannung erwartet.